Deutschland: Halali in Heiligengrabe

Nebelschwaden wabern über die Auen. Feuchte Novemberluft hängt in knorrigen Laubbäumen. Ab und an tropft es aus dem Geäst. Plötzlich böllern Gewehrschüsse durch die Stille. Eine Meute Hunde schlägt an. Wir erstarren wie die hölzernen Gestalten am Wegesrand und lauschen angestrengt. „Kein Grund zur Panik“, hatte Hartmut Eckert, Inhaber des Klosterhofs, am Vorabend beruhigt. „Euer Weg ist weit ab vom Jagdgebiet.“

Am 3. November jeden Jahres ist Hubertustag, Namenstag des heiligen Hubertus von Lüttich, Schutzpatron der Jäger. Dem Anlass entsprechend haben sich im Klosterhof zu Heiligengrabe jede Menge Lederhosen eingefunden, deren Träger die Insignien ihrer Zunft zur Schau stellen: Krawatten mit Hirschgeweihen. Derbe Joppen mit Knöpfen, auf denen Eichenlaub rankt. Auf der Speisekarte bieten sich Rehbraten, geschmorte Beinscheibe und Dreierlei aus dem Stiftswald an. Wir Gäste schmatzen mit erhitzten Gesichtern. Die grüne Liga am Nachbartisch bestellt die erste Runde Schnaps. Allesamt Mitglieder des Jagdverbands „Silberner Bruch“, die aus Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien und der Schweiz angereist sind, um sich auf die Jagd am nächsten Tag einzustimmen. „Die schießen alles, was ihnen vor die Flinte kommt“, raunt Hartmut Eckert über seinen Tresen und ergänzt: „Es gibt viel zu viel Wild in den Wäldern.“

Wir hingegen sind zum Wandern ins Prignitzer Land im Brandenburgischen gekommen. Und weil wir in einem richtigen Kloster übernachten wollen. Im Kloster Stift zum Heiligengrabe geht das. Wir logieren in einem frisch renovierten Appartement in einem der Fachwerkhäuser am Damenplatz, die Anfang des 18. Jahrhunderts errichtet wurden. Die Gründung des Klosters selbst erfolgte 1287. Friedrich II. wandelte es 1742 in ein Damenstift um, welches bis heute existiert und von drei Stiftsdamen nebst Äbtissin Friederike Rupprecht bewohnt wird. Es ist ein Areal mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, die sich Rosenhäuschen, Taubenturm oder Pulitzerhaus nennen, mit Glockenturm, Heiligengrabkapelle und Stiftshauptmannshaus, Wiesen und Teichen, in deren Zentrum die Stiftskirche emporragt.

Wer auf dem Kopfsteinpflaster wandelt, fühlt sich sofort ins Mittelalterliche versetzt, auch wenn die Anlage umfangreich saniert wurde. „Etwa 13 Mio. Euro hat die Erneuerung von Dächern und Außenfassaden gekostet“, erzählt Frau Schreiber, die hier regelmäßig Führungen macht, seit 13 Jahren auf dem Gelände lebt, aber keine Stiftsdame ist. Auch das geht. Wer Interesse an klösterlichem Leben hat, kann sich an den Sanierungskosten der noch leerstehenden Gebäude beteiligen und hier eine Bleibe finden. Wer einfach nur eine Auszeit sucht, wird ebenfalls fündig. Darüber hinaus veranstaltet das Kloster regelmäßig Veranstaltungen und Seminare.

2006 wurde Hape Kerkelings Wandertagebuch über den Jakobsweg ein Bestseller. Wandern hieß fortan Pilgern. Das geht auch in Heiligengrabe, dachten die Einheimischen. „Wir sind einen Rundweg von reichlich 20 km abgeschritten, haben ihn mit Wegmarken versehen und nannten ihn Annenpfad“, erzählt Frau Schreiber. Sogar an einen Pilgerausweis, auf dem man die Stationen der Wanderung abstempeln lassen kann, wurde gedacht. Seit es den Rundweg gibt, kommen immer mehr Gäste nach Heiligengrabe.

Nach opulentem Wildbrett am Vorabend und dem ersten Pilgerstempel am nächsten Morgen schreiten wir auf dem Pfad der heiligen Anna, Mutter von Maria und Großmutter von Jesus Christus. Seit dem Spätmittelalter gilt sie als Schutzpatronin der Zünfte und Händler, von Müttern, Bergleuten und Knechten, also von mehr oder weniger allen Kindern Gottes. Dementsprechend behütet schlendern wir durch Laubwälder mit Eichen und Buchen, dazwischen immer wieder Lichtungen mit Blick auf weite Felder, auf denen die Wintersaat grünt. Sollen sie doch in der Ferne böllern und kläffen. Wir trotten vor uns hin wie zwei alte Gäule, während Blätter von den Bäumen fallen und durch den Herbstwind trudeln als sei die Welt eine Schneekugel.

Nach Wilmersdorf und seiner Fachwerkkirche im Dorfzentrum erscheint ein weiterer Kirchturm am Horizont. Lange bevor wir Alt Krüssow erreichen, kündigt er die nächste Pilgeretappe an. Die Kirche von Alt Krüssow ist bekannt für ihre Reliquie, den Rock der heiligen Anna. Wie der hier her kam und ob er tatsächlich zu besichtigen ist, bleibt unbeantwortet, da das Gotteshaus verschlossen ist. Den zweiten Pilgerstempel können wir also vergessen. Wie echte Pilger nehmen wir unsere Brotzeit auf den Kirchenstufen ein. Es ist kalt. Die Hände frieren an den mitgebrachten Bouletten. Währenddessen sind die Dorfstraßen leer gefegt. Wie bei einem deutsch-deutschen Champions League Finale.

Wir steuern Bölzke an, und auf dieser Strecke passiert seltsam Gewöhnliches. Zunächst einmal weicht die Kälte aus den Gliedern. Unter den dicken Jacken beginnt es zu dampfen. Gesichter erglühen. Beine stiefeln unentwegt vorwärts. Plötzlich kommt Wind auf und reißt eine Lücke in den Wolkenbrei. Herbstliche Strahlen drängeln hindurch und verwandeln tristes Grau in ein frühromantisches Aquarell. Vor lauter Begeisterung übersehen wir die Wegmarken und kommen zwischen endlosen Feldern zum Stehen. Wie typische Städter, die so etwas wie Wetter kaum noch wahrnehmen, wenn überhaupt, auf der kurzen Strecke zwischen Haustür und Auto. Schon seltsam, dass man sich plötzlich von Allgegenwärtigkeiten ablenken lässt.

Nach einigen hundert Metern auf einem uralten Kopfsteinpflasterweg zeigt sich Bölzke. Auch in diesem Dorf steht eine Kirche. Drum herum Bänke, auf denen wir die Reste unseres Proviants vertilgen und das Gebäude in Augenschein nehmen. Schlicht ist es, mit einigen Türmchen versehen, restauriert natürlich – leider geschlossen. Auch hier bekommen wir keinen Pilgerstempel, die auf einem Informationsblatt benannten Stempelbeauftragten aus dem Dorf öffnen weder Tür noch Tor. Da müssen wir wohl nochmal mit Frau Schreiber reden.

Die letzte Pilgeretappe führt schließlich direkt durchs Jagdrevier. Doch die grüne Liga hat längst Feierabend gemacht und befindet sich wie wir auf den Rückweg. Wegsperrungen werden aufgehoben. Gutes Timing. Nach reichlich fünf Stunden gemütlicher Pilgerei erreichen wir das Kloster Stift, unseren Ausgangspunkt. Endlich Einkehr im Klosterhof bei Hartmut Eckert, der gerade ein Tablett mit 17 Schnäpsen austrägt. Und wie wars? Einer der Grünröcke hebt den Daumen. Viel geredet wird in der Männerschaft offenbar nicht. Na dann, Waidmanns Dank. 17 Schnäpse ergießen sich in 17 Kehlen. Wo haben die eigentlich ihre Frauen gelassen? „Erschossen“, lacht ein Dörfler, der am Tresen sein Samstagabendbier trinkt.

„Und wie wars?“, fragt auch Frau Schreiber am nächsten Morgen, als wir unsere Pilgertour mit einer Besichtigung der Stiftskirche, des Kreuzgangs und der Ausstellungsräume abrunden. Dort befindet sich die Ahnengalerie mit Abbildern der leitenden Stiftsdamen, die sich seinerzeit Domina nannten. Schön ist anders, zumindest aus heutiger Sicht. Über den Pilgerweg hingegen sind wir voller Lobes. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Ländlich, friedlich. Ohne Jubel und Trubel. Nur Felder, Wiesen, Wälder und ein bisschen Halali. Es gibt nichts Besseres um den städtischen Alltag hinter sich zu lassen. Und wer zur heiligen Anna braucht dafür schon Pilgerstempel.

Über Sarah Paulus

Ich bin freie Autorin mit Fokus auf Reportagen und aktuelle Themen rund um Reise, Politik, Menschen und Kultur. Meine Artikel und Reportagen wurden u.a. in der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Morgenpost, dem Tagesspiegel, der Welt/Welt am Sonntag, bei Spiegel Online sowie in diversen Magazinen veröffentlicht. Sarah Paulus
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