Seit Wochen veröffentlicht der Tagesspiegel die immer gleiche Anzeige: #FREEDeniz. Nur eines ändert sich – die Anzahl der Tage, die der deutsch-türkische Journalist ohne Anklage in der Türkei festgehalten wird. Ein Großteil der Medienlandschaft zwischen Kap Arkona und Zugspitze gerät schließlich am 03. Mai, dem Tag der Pressefreiheit, außer Rand und Band. Wer ist dieser Deniz Yücel, der ob seiner bloßen Verhaftung den Theodor-Wolff-Sonderpreis erhielt? Und warum sitzt er in einem türkischen Gefängnis?
Zur Beantwortung der ersten Frage lohnt es sich, dem Deutsch-Türken aufs Maul zu schauen, sprich dessen bisher veröffentlichte Texte zu lesen. Er schrieb u.a. über die Gezi-Bewegung in Istanbul, die PKK, den Militärputsch sowie über Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze. Dabei ließ er am System Erdogan kein gutes Haar, was ihm in Deutschlands Mitte gehörig Sympathie einbrachte.
Doch auch bei deutschen Politikern nahm er kein Blatt vor den Mund. So in einem Kommentar für die TAZ im Februar 2012 mit dem Titel „Ein Stinkstiefel namens Gauck“. Den zu diesem Zeitpunkt noch angehenden Bundespräsidenten beschreibt er als „eitlen Zonenpfaffen“, der als „Pfarrer mit Reiseprivilegien“ ziemlich genau zu dem Moment lautstark gegen die DDR zu protestieren angefangen habe, „als dies nichts mehr kostete, um sich hernach mit umso größerem denunziatorischen Eifer an die Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu machen.“ Ideologisch verortet er den „reaktionären Stinkstiefel“ zwischen Martin Walser, Erika Steinbach und Stefan Effenberg. Schließlich krönt er seinen Text mit den Worten: „Schade ist nur, dass er nicht gleich am Donnerstag auf der Gedenkfeier für die Opfer der Nazimorde anstelle von Wulff in die Bütt gehen wird. Andererseits: Der nächste Dönermord oder eine andere Gelegenheit, um Ausländern die Meinung zu geigen, Verständnis für die Überfremdungsängste seiner Landsleute zu zeigen, die Juden in die Schranken zu weisen und klarzustellen, dass Nationalsozialisten auch nur Sozialisten sind, findet sich ganz bestimmt.“
Im Licht der Gauck-Euphorie mag Yücels Generalverriss des „Konsenskandidaten“ recht einsam in der Landschaft herumgestanden haben. So erklärt sich auch die Réplique von Jürgen Trittin. In Maybrit Illners Talkrunde vom 22. Februar 2012 entrüstet sich der Bündnis-Grüne mit den Worten: „Das ist wirklich auf Deutsch gesagt Schweinejournalismus.“
Einige Monate später knöpft sich Yücel den Ex-Bundesbanker und SPD-Politiker Thilo Sarrazin in seiner Kolumne „Das ist nicht witzig“ vor, die in der TAZ am 6. November 2012 veröffentlicht wird. Dort schreibt er über „Buchautor Thilo S.“, den man, „und das nur in Klammern, auch dann eine lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur nennen darf, wenn man weiß, dass dieser infolge eines Schlaganfalls derart verunstaltet wurde und dem man nur wünschen kann, der nächste Schlaganfall möge sein Werk gründlicher verrichten“. Der Satz greift eine Formulierung der Journalistin Mely Kiyak auf, die sich in der Frankfurter Rundschau über die „Verplemperung unserer Fernsehgebühren für diese lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“ ereiferte, daraufhin heftig attackiert wurde und erklärte: „Wenn ich den physiologischen Hintergrund gekannt hätte, hätte ich das Bild nicht gewählt.“
Das der Trittinsche Schweinejournalist Pressefreiheit mit Beleidigungsfreiheit verwechselte, hat die TAZ im Fall Sarrazin satte 20.000 Euro gekostet. Zudem darf dieser Text wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts nicht mehr verbreitet oder veröffentlicht werden.
Und nun sitzt Deniz Yücel in Untersuchungshaft. Schon im Juni 2015 geriet er mit der türkischen Staatsgewalt aneinander. Damals seien er und drei andere Journalisten für eine Dreiviertelstunde in Polizeigewahrsam genommen worden, weil die Gruppe im Rahmen einer Pressekonferenz des Gouverneurs von Urfa, İzzettin Küçük, am türkisch-syrischen Grenzübergang Akçakale kritische Fragen gestellt habe.
Im aktuellen Fall soll schon am 25. Dezember 2016 Haftbefehl gegen Yücel erlassen worden sein. Dieser stehe im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen das türkische Hacker-Team RedHack, das sich Zugang zu eMails von Berat Albayrak, Energieminister und Schwiegersohn von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, verschafft habe, welche über WikiLeaks am 5. Dezember 2016 in „Berat’s Box“ der Öffentlichkeit zugängig gemacht wurden.
Interessant ist, dass es zu „Berat’s Box“ nur wenige Meldungen gibt, von WikiLeaks selbst sowie einen Eintrag bei Wikipedia. Demnach handelt es sich um 57.934 Mails aus der Zeit zwischen April 2000 und September 2016. Darin gehe es um Kommunikationsstrategien zur Beeinflussung von Presse und sozialen Netzwerken. Des Weiteren um Verbindungen zwischen dem Energieminister und der türkischen Ölfirma Powertrans, die in Geschäfte mit dem IS verwickelt sein soll. Yücel hatte über den „20 Gigabyte-Hack“ bereits im Oktober 2016 berichtet. Zwei Monate vor WikiLeaks. Er muss Informationen aus erster Hand gehabt haben.
Als der Haftbefehl erlassen wurde, soll sich Yücel nicht in der Türkei aufgehalten haben. Für ungefähr 1 ½ Monate herrschte auf seinem Facebook-Account komplette Funkstille. Mitte Februar 2017 wurde er in Polizeigewahrsam genommen. Einer Vorladung folgend hatte er sich ins Istanbuler Polizeipräsidium begeben. Warum nur?
Zwei Wochen später folgte die Überstellung in Untersuchungshaft. Doch der anfängliche Zusammenhang seiner Verhaftung mit der Hacker-Attacke scheint mittlerweile irgendwie unter den Tisch gefallen zu sein. Neuerdings, so der Spiegel am 28.02.2017, gehe es um Artikel, die Yücel zum Putschversuch und Kurdenkonflikt geschrieben habe. Die türkische Staatsanwaltschaft werfe ihm nunmehr Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die islamistische Gülen-Sekte vor. Präsident Erdogan glaube, Yücel habe für Deutschland spioniert und bezeichnet ihn als „Agenten und PKK-Vertreter“. Von Verbindungen zu RedHacks ist keine Rede mehr.
Yücel sitzt also noch immer. Anders als sein italienischer Kollege, Gabriele del Grande, der nach 14 Tagen Gewahrsam freigelassen wurde. Sind die PKK/Gülen-Artikel nur ein Vorwand? Schrieb Yücel an einer Geschichte über den NATO-Partner Türkei und dessen Beteiligung an Ölgeschäften mit dem Waffenbruder IS? Hat man ihn prophylaktisch aus dem Verkehr gezogen, weil seine Recherchen nicht nur in der Türkei, sondern auch in der Welt transatlantischer Verflechtungen tunlichst unter den Teppich gekehrt werden sollen? Oder hat er wieder Texte verfasst, die in Deutschland mit Geldstrafen geahndet werden, anderswo mit Gefängnis?
Fragen über Fragen, die im bissigen Kampf um Pressefreiheit keinerlei Beachtung finden. Vielleicht wird später, irgendwann einmal, die Akte Deniz Yücel geöffnet. Bis dahin bleibt zu hoffen, dass Yücels kürzlich im Gefängnis zelebrierte Hochzeit kein schlechtes Omen ist. Seine Freundin, nun Ehefrau, erhält durch die Eheschließung ein Besuchsrecht. Es könnte allerdings einen weiteren Grund für das Ja-Wort geben. Sollte dem Journalisten „etwas zustoßen“, wäre seine Witwe wohl abgesichert.
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Text: Sarah Paulus
Grafik: Rolf G. Wackenberg