Das Zimmer ist karg möbliert. In der Mitte steht ein Tisch, drum herum acht Stühle. Die schmucklosen Wände sind blau gestrichten. Das schmale Fenster wartet auf Gardinen. Daneben ein Fernseher, auf dessen Mattscheibe „Mascha und der Bär“ flimmert. Kichernd verfolgen Rahil und seine Schwester Turanə das Geschehen auf dem Bildschirm, während Mutter Bakar das Abendessen zubereitet. Sie trägt eine Schüssel mit Krautwickeln und Kartoffeln herein. Der Brotkorb ist prall gefüllt. Saft mit roten Früchten wird in Gläser gegossen. „Kompott“, sagt Ehemann Jehud Bakiyev und stellt die Senioren des Dreigenerationenhaushalts vor: Großvater Ayddanbəy, der schweigend Tee schlürft, und Großmutter şəpərir, die Schafsfell zu Geld spinnt. Familie Bakiyev wohnt in Xinaliq. Der Ort liegt im Großen Kaukasus, rund 60 Kilometer von der nächstgelegenen Kleinstadt Quba entfernt.
Mit einer Höhenlage von 2.350 Metern gilt Xinaliq als eines der am längsten bewohnten und gleichzeitig entlegensten Bergdörfer Aserbaidschans. Es ist über eine einzige Zufahrt erreichbar, früher ein Alptraum von Schotterpiste, die anlässlich eines Besuchs von Präsident Aliyev zu einer bescheidenen Teerstraße ausgebaut wurde. Sie führt durch bewaldetes Bergland und tiefe Schluchten mit senkrecht aufragenden Felswänden, die permanent von Steinschlägen, Abbrüchen und Unterspülungen bedroht wird. Ist der Weg durch Serpentinen bewältigt, endet er irgendwo zwischen Häusern und verästelt sich in steilen Gassen hinauf zum Gipfel des kleinen Bergdorfs.
Der Versuch eines Tischgesprächs. Brot heißt çörək. In den Krautwickeln ist quzu, Lamm, wie mit Zeichensprache herausgefunden werden kann. How old are your children? Сколько лет детям? Bakar und Jehud zucken hilflos mit den Schultern. Sie sprechen Aserbaidschanisch und Lesgisch, eine Sprache, die lediglich im Nordkaukasus verbreitet ist. Kein Englisch, kein Russisch. Wer sich mit Wörterbuch durchschlagen muss, stößt an Grenzen. Das aserbaidschanische Alphabet wurde in den letzten 100 Jahren viermal geändert, was zu einem babylonischen Wirrwarr an Schreibweisen geführt hat. Xinaliq oder Khinaluq, wer weiß das schon? Hoch oben, umgeben von Dreistausendern haben die Menschen andere Sorgen.
Denn Xinaliq präsentiert sich als harter Kontrast zur Hauptstadt des Landes, der eine umtriebige Präsidentendynastie zu modernem Antlitz, buchstäblich zu Glanz und Glamour verholfen hat. Milliarden von Petro-Dollars wurden in Beton gegossen. In allerneueste Sportstadien, Kongresszentren, kilometerlange Strandpromenaden und Hochhäuser, die nachts illuminiert werden, als stünde ganzjährig Weihnachten vor der Tür. Überschwänglich präsentiert Baku ihren Reichtum. Die Boulevards der Metropole stehen den Prachtstraßen der westlichen Welt in nichts nach. Sie werden von wohlhabenden Zeitgenossinnen bevölkert, die über den Jahrmarkt der Eitelkeiten stöckeln, während Bentley, Porsche und Maserati durch die breiten Alleen des „Dubais der Russen“ rauschen.
Nur 200 Kilometer nördlich sieht die Welt anders aus. Die Einwohner Xinaliqs tragen Wollklamotten statt seidige Couture. Sie fahren Lada Niva und hüten Schafe. Wie zu Uromas Zeiten sind die Wohnräume oft über den Ställen zu finden. Kühe und Federvieh laufen frei herum. Müll wird schlicht über den Abhang gekippt. Fließend Wasser gibt es ebenso wenig wie Restaurants und Hotels. Stattdessen manifestiert sich Vermögen in Goldzähnen, die regelmäßig aufblitzen, wenn ihre Besitzer in die Sonne lachen. In der Nacht hingegen ist kaum die Hand vor Augen zu sehen. Die Wolken hängen oft tief, ziehen gespenstisch durch den Ort. Immerhin gibt es Strom und dank Funkmast modernen Handyempfang.
„Die ersten Ansiedlungen gab es bereits vor 5.000 Jahren. Unsere Vorfahren sollen feueranbetende Zoroaster gewesen sein“, erzählt der 24jährige Isset, der Geschichte in Baku studiert, ein passables Englisch spricht und in den Ferien das Heimatmuseum betreut. Wenn er sein Examen in der Tasche hat, will er zurückkommen und vor Ort den Tourismus ankurbeln. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen jungen Leuten, die das Dorf in den letzten Jahrzehnten verlassen haben, um in den Städten Aserbaidschans oder im Ausland ihr Glück zu suchen.
Kein Wunder, denn der Alltag ist hart. „Wäsche wird meist in Trögen gewaschen, frisches Wasser in Eimern herangeschleppt“, sagt Isset. „In den Sommermonaten ist es brütend heiß. Spätestens im Oktober beginnt es zu schneien. Dann wird es bitterkalt.“ Bis die Schneeschmelze im Frühjahr bis zu 100 Meter breite Flussläufe in die bizarre Bergwelt fräst. Doch selbst bei gutem Wetter gibt es immer wieder Bergabbrüche und Schlammlawinen, die mit schwerem Gerät geräumt werden müssen.
Familie Bakiyev lebt in trauter Gemeinschaft mit ihren Tieren. Über eine Holztreppe erreicht man eine Art Durchgang zu den Wohnräumen. Tagsüber sitzt hier Großmutter şəpərir hinter dem Spinnrad und wacht mit kritischem Blick über das Geschehen im Haus. Zugleich dient der Durchgang als Küche. Zwei Anrichten an den Wänden, ein Gasherd, ein alter Kühlschrank mit Eisfach, ein Wasserkocher. Die Ernährung der Bakiyevs ist einfach. Schafskäse und Eier. Kartoffeln, Hammel und Brot. Tee zu jeder Tageszeit. Keine Cola, kein Ketschup, kein Alkohol. Die Bakiyevs sind Moslems, wie 90% alle Aserbaidschaner. Dennoch ist das Spirituosenangebot in jedem noch so kleinen Dorfladen beachtlich. Von Abstinenz kann zwischen Kaspischem Meer und Kaukasus keine Rede sein.
Nur etwa 300 Touristen besuchen Xinaliq pro Jahr. Oft als Tagesgäste, die mit Kleinbussen herangekarrt werden und vor Sonnenuntergang verschwinden. Wer länger bleibt, nächtigt privat. In bescheidenen Häuschen mit Außenklo – ohne jedweden Schnickschnack.
Wer sich selbst genug ist und die grandiose Landschaft erschließen will, steigt in die Berge oder schlägt sich auf nicht ausgeschilderten Pisten entlang des Qudiyalcay Flusslaufs über mehrere Tage hinweg nach Laza Süd durch. „Geht nicht nach Norden“, empfiehlt Faiq, Jehuds Bruder und zeigt Richtung Grenze. Probleme mit den Russen gebe es nicht. Dennoch sei die nördliche Gebirgsregion Sperrgebiet. „Army“, deutet er vielsagend an.
Der nächste Morgen beginnt schon vor Sonnenaufgang. Bakar schlurft müde durchs Haus und werkelt am Frühstück herum. Ihr Mann verlässt mit seinem Bruder das Haus. Großmutter şəpərir stellt das Spinnrad zurecht. Rahil und Turanə setzen sich vor den Fernseher. Großvater Ayddanbəy schlürft schweigend Tee. Sitzt einfach da, als würde ihn das morgentliche Geschehen nichts angehen. Gleich wird er mit den Schafen in die Berge ziehen, um erst bei Sonnenuntergang zurückkehren. So wie jeden Tag.
.
Text: Sarah Paulus
Fotos: Rolf G. Wackenberg