Brot und Spiele

Die Wüstenstadt Yazd empfängt in fiebriger Aufregung. Der Vorplatz zur Altstadt, zwischen Jame-Moschee und Saiyid-Rukn-ad-Din-Mausoleum, ist voller Menschen. Jugendliche cruisen hektisch auf Motorrollern umher. Frauen wischen etwas zusammen, das aussieht wie Blut, während ein Mann Plastikschälchen mit süßem Milchreis verteilt. Aus dem Kofferraum eines Kombis gleich neben ihm wird Bohnensuppe und Spinat gereicht. Wer an Tasua oder Ashura im Iran unterwegs ist, braucht für sein leibliches Wohl nicht zu sorgen. Überall wird Essen verteilt. Kostenlos. An Einheimische und Touristen.

Tag 9 und 10 des islamischen Kalendermonats Muharram, Tasua und Ashura genannt, zählen bei den Schiiten zu den wichtigsten religiösen Feiertagen. Sie gedenken dem Imam al-Hussain ibn Ali. Der Enkel des Propheten Mohammeds wurde 680 n.Ch. in der Schlacht bei Kerbala von den Truppen des Umayyaden-Kalifen Yazid I. getötet. Am Vorabend seines Todes soll al-Hussain angesichts der feindlichen Übermacht seine Gefolgsleute zusammengerufen und verkündet haben: „Ich werde nun das Licht löschen. Wer mich verlassen will, kann gehen. Niemand wird sein Gesicht verlieren.“ Ganze 72 Getreue seien ihm geblieben. Keiner überlebte die Schlacht.

Doch nicht nur an diesen Tagen wird um den Märtyrer getrauert. Über den gesamten Monat hinweg finden unablässig Zusammenkünfte, Umzüge und Kundgebungen statt.

Wir erreichen Yazd am Tasua-Abend. Ehsam (19) und seine Freunde umringen uns übermütig. Nach einem kurzem Kennenlerngeplänkel bitten sie uns freundlich, sie zu begleiten. Wir werden zu einer Hoseyniye in der Nähe des Alexandergefängnisses geführt, eine Art Freiluftarena für religiöse Veranstaltungen. Auf den Balkonen des ummauerten Innenhofs haben Frauen Platz genommen. Einige scheinen gespannt das Bevorstehende zu erwarten, andere tippen gelangweilt auf ihren Smartphones herum. „Das Betreten des Innenhofs ist ihnen untersagt. Bei Touristinnen werden Ausnahmen gemacht“, erklärt Ehsam.

Dann dürfen wir der Hoseyniye buchstäblich aufs Dach steigen. Durch eine enge Luke, über halsbrecherisch hohe Stufen. Oben angekommen, nur leicht keuchend, genießen wir den exzellenten Blick auf den Innenhof, der sich zusehens mit schwarz gekleideten Männern füllt.

Ein Mullah beginnt zu orchestrieren. Die Männer folgen seinem Singsang, schlagen sich mit der flachen Hand auf die Brust. Zunehmend heftiger und schneller. Einige geraten in Trance, andere wischen Tränen aus dem Gesicht. Nach einer halben Stunde wechseln die Akteure, Angehörige verschiedener Moscheen und Gemeinden lösen einander ab. Bald ist auch Ehsam unter ihnen auszumachen. Wir verfolgen das Spektakel bis tief in die Nacht.

Am nächsten Tag erreichen die Festivitäten mit dem Tragen des Nakhls ihren Höhepunkt. Der symbolische Katafalk al-Hussains, die „Palme“, findet sich allerorten. Ab und an ist sie so groß, dass sie nur durch das Zusammenwirken hunderter Männer bewegt werden kann.

An einem dieser tonnenschweren Nakhls wird letzte Hand angelegt. Drei Männer klettern auf ihm herum und schmücken ihn liebevoll mit frischen Blumen. Ab 12 Uhr wird ausgiebig gebetet, doch die eigentliche Zeremonie lässt auf sich warten. „Jetzt gibt es erst einmal Mittagessen“, sagt Fatemeh, eine junge Iranerin, und eilt mit ihrer Familie von dannen, um wenig später mit weißen Styroporschachteln zurückzukehren, in denen Reis und Gulasch dampfen.

Gegen 15 Uhr ist der Innenhof mit hunderten Menschen gefüllt. In einem Teil wogt ein schwarzes Tschador-Meer, aus dem Frauengesichter in die pralle Sonne blicken. Der andere Teil wird von Männern bevölkert, ebenfalls meist schwarz gekleidet. Alle stehen dicht an dicht. Im Zentrum der Nakhl. Mittlerweile wird auch auf den begehbaren Mauern gedrängelt. Entrinnen unmöglich, Fluchtwege sind unbekannt. „Sie lassen euch erst raus, wenn die Zeremonie beendet ist.“

Schließlich, eine weitere Stunde ist vergangen, beginnt sie mit dem Einmarsch einer Kapelle. Nur mühsam gelingt es ihr, sich den Weg durch die Menschenmassen zu bahnen. Gesänge und Gebete begleiten das Geschehen. Wieder schlagen sich die Männer auf die Brust, um, endlich, mit vereinten Kräften den Nakhl zu heben und ihn zwei Mal im Kreis zu tragen. Schleppen beschreibt es wohl besser.

Die Männer vereint zu einem brodelnden Menschenstrudel, die wehklagenden Frauen um sie herum. Mehrfach wird die Prozedur wiederholt. Ein Wechselspiel aus Hysterie und Andacht, Bewegung, Takt und Trance.

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Text: Sarah Paulus
Foto: Rolf G. Wackenberg

 

Über Sarah Paulus

Ich bin freie Autorin mit Fokus auf Reportagen und aktuelle Themen rund um Reise, Politik, Menschen und Kultur. Meine Artikel und Reportagen wurden u.a. in der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Morgenpost, dem Tagesspiegel, der Welt/Welt am Sonntag, bei Spiegel Online sowie in diversen Magazinen veröffentlicht. Sarah Paulus
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