Usedom im Winter: Schatzsuche am Ostseestrand

„Es war einmal vor vielen Jahren. Da herrschten während des Dreißigjährigen Krieges auf der Ostseeinsel Usedom Not und Elend. Nun trug es sich zu, dass die Pfarrerstochter Maria Schweidler eine Bernsteinader fand und die kostenbaren Steine verkaufte, um von dem Erlös Brot für die Hungernden zu erwerben. Gleichzeitig wurde Maria vom Amtshauptmann Appelmann begehrt. Die 15jährige wies ihn jedoch zurück, worauf der Verschmähte sie wegen ihres unerklärlichen Geldbesitzes der Hexerei bezichtigte. Maria wurde daraufhin zum Scheiterhaufen geführt. Doch Graf Rüdiger von Nienkerken bewahrte sie vor dem Flammentod, indem er sie zur Frau nahm.“ So die Geschichte des Schriftstellers und Theologen Johannes Wilhelm Meinhold, die er 1841 erstmalig veröffentlichte.

Und heute? Sind Hexen und Hungersnöte passé. Vielmehr gilt Usedom als Refugium für Sommerfrischler und Strandläufer aus aller Herren Bundesländer. „Mehrere Zehntausend sind es in den Sommermonaten“, weiß Frank Reischke, Geschäftsführer des Hotels Bansiner Hof. Dann platzen die Strandkörbe aus allen Nähten. Kein Wunder – die „Badewanne“ vor den Toren der Hauptstadt ist mit rund 1.900 Sonnenstunden im langjährigen Jahresmittel der sonnenreichste Ort Deutschlands.

Doch was könnte Besucher im kalten Winter auf die Ostseeinsel locken? Wenn Schnee die Stände bedeckt und die Sonne nur knapp über den Horizont lugt. Eine Schatzsuche vielleicht. Auf den Spuren der Bernsteinhexe.

Als Ausgangspunkt der Spurensuche ließe sich der Bansiner Hof wählen, wo Gastgeber Reischke es sich nicht nehmen lässt, die Besucher persönlich zu begrüßen. „Manche waren schon so oft da, dass man sie als lebendes Inventar bezeichnen könnte.“ Denn das Meer zieht zu jeder Jahreszeit, auch wenn oder gerade weil es jetzt sehr viel ruhiger ist. Zudem sei die Wellness-Insel ein Reiseziel für ältere Leute, die den klassischen Skiurlaub nicht mehr realisieren können. „Zeitvertreib, Interessantes wie gleichermaßen Skurriles, gibt es auch im Winter.“

Geschichten über „das Gold der Ostsee“ etwa oder eine mysteriöse Familienchronik, die uns zunächst in Richtung der Bernsteinbäder Ückeritz, Loddin, Koserow und Zempin führt, wo jährlich im Frühjahr die Bernsteinwoche mit der Krönung der Bernsteinkönigin stattfindet. „Nicht ohne Grund“, verrät Reischke. „Hier liegen die reichsten Vorkommen der Insel. Gleich hinter Bansin geht es los. Entlang der 15 Kilometer langen Steilküste.“

Um bei der Suche fündig zu werden, muss das Meerwasser kalt sein. Dann schwimmen die Steine obenauf und sinken nicht wie im Sommer auf den Grund. Doch auch im Winter braucht es ein Quantum Glück. Zunächst einen kräftigen Westwind, der die Badewanne volllaufen lässt. Dann sollte der Wind scharf auf Nordost drehen. „Auf diese Weise kann er über hunderte Kilometer so richtig Fahrt aufnehmen“, erklärt Reischke. „Bedingt durch den hohen Wasserstand, schlägt das Meer nun mit voller Wucht auf die Küste, wodurch die Bernsteinadern freigespült werden. Wenn sich das Meer zurückzieht, funkelt der Strand.“ Ein Phänomen, das sich vor allem mit den Winterstürmen zeigt. „Das lockt natürlich Touristen, so genannte Nachsammler.“

Dieser Tage ist das nicht so. Bei minus 5 Grad strahlt die Sonne, als wolle sie selbst im Winter alle Rekorde brechen. Kein Windchen weht. Das Meer ist platt wie eine Flunder. An seinen Ufern schwappt es träge wie crushed ice in einem Cocktailglas. Doch Evi und Siegfried aus Guben sind auch ohne Bernstein glücklich. „Frische Luft und vereiste Brandung, die glitzernden Schneekristalle. Dass ich das noch einmal erleben kann“, sagt die 76-jährige Brandenburgerin. Das Paar gehört zu denen, die seit Jahren auf die Insel kommen. Zu jeder Jahreszeit. „Nur der Winter hat uns noch gefehlt“, ergänzt Siegfried.

Wen das Schatzsucherglück im Stich lässt, kann den Bernsteinbasar in Loddin besuchen. Dort bietet der passionierte Sammler Hans-Jürgen Schwarzenholz Naturbernstein zum Verkauf an. „Ungeschliffene Stücke, Ketten und Anhänger aus eigener Produktion“, erklärt der pensionierte Zahntechniker. 300 Arten gibt es weltweit in 30 verschiedenen Grundfarbtönen, von Weiß bis Schwarz. Anders als Kieselsteine, die immer kalt und schwer sind, ist Bernstein warm und leicht. Schwebt daher in 10%iger Salzlösung. „Oder man macht die Brennprobe“, führt der Experte aus. „Da bleibt allerdings nichts übrig. Ist ja nicht mehr als fossiles Harz von Bäumen. Damit es zu Bernstein wird, muss das Harz mindestens eine Million Jahre unter bestimmten Bedingungen lagern.“ 35 bis 50 Millionen Jahre alt ist der Ostseebernstein. Sein eigener größter Fund? „Faustgroß“, sagt Schwarzenholz. „Aber das passiert nur einmal im Leben.“

Auf den Spuren der Bernsteinhexe führt der Weg nun nach Koserow. Hier beginnt die von Johannes Wilhelm Meinhold beschriebene Geschichte der Pfarrerstochter Maria Schweidler, die im nahegelegenen Streckelsberg besagte Bernsteinader gefunden haben soll. Meinhold selbst war von 1821-1827 Pastor in der hiesigen Kirche, wo er, so steht es im Vorwort zur Erstausgabe seines Büchleins, auf die Familienchronik der Schweidlers stieß, und diese als Vorlage nutzte.

Diese führt sogleich zum Schloss Pudagla. In dem ehemaligen Kloster aus dem 13. Jahrhundert und späteren Zentrum der Landesverwaltung soll besagter Amtshauptmann Ampelmann seinen Sitz gehabt haben. In dessen Kreuzgewölbe verortete Meinhold sowohl Marias Hexenprozess als auch das Verließ, in dem sie bis zu ihrer Verurteilung eingesperrt gewesen sein soll. Unweit vom Schloss erhebt sich der 38,6 m hohe Glaubensberg, auf dem das Mädchen den Flammentod erfahren hätte, wenn nicht Graf Rüdiger von Nienkerken gekommen wäre und sie geehelicht hätte.

Dessen Nachlass findet man im wenige Kilometer entfernten Wasserschloss Mellenthin, einst Stammsitz derer von Neuenkirchen. Erbaut zwischen 1575-1580 von eben jenem weißen Ritter. Heute ist die Anlage ein Hotel mit eigener Bierbrauerei und Kaffeerösterei. Am üppigen Ritterbüffet speisend kann man die Bernsteintour gemütlich ausklingen lassen. Und die Hexengeschichte noch einmal Revue passieren lassen. Wann war nochmal der Dreißigjährige Krieg? Wann lebte von Nienkerken? Passt das überhaupt zusammen?

Unwichtig. Denn am Ende wird die Sache zu einem Kuriosum. Nachdem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV Interesse an Meinholds vermeintlich 200 Jahre alten Quellen geäußert hatte, musste dieser einräumen, dass die angebliche Familienchronik nie existiert hat, mithin die schaurigschöne Hexengeschichte frei erfunden war. Dem Charme der „gefälschten Tagebücher“ wie auch dem Reiz der winterlichen Bernsteinromantik hat das keinen Abbruch getan.

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Text: Sarah Paulus (www.sarahpaulus.de)
Foto: Rolf G. Wackenberg (www.wackenberg.com)

Über Sarah Paulus

Ich bin freie Autorin mit Fokus auf Reportagen und aktuelle Themen rund um Reise, Politik, Menschen und Kultur. Meine Artikel und Reportagen wurden u.a. in der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Morgenpost, dem Tagesspiegel, der Welt/Welt am Sonntag, bei Spiegel Online sowie in diversen Magazinen veröffentlicht. Sarah Paulus
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