Santa Clara. Seit unserer Ankunft keine ruhige Minute. Stattdessen die Suche nach Übernachtungsmöglichkeiten sowie die obligatorische Stadterkundung. Abends dann endlich ruhige Momente in der kleinen Bar La Marquesina am Parque Leoncio Vidal.
Bis Mitternacht sind Fenster und Türen weit geöffnet, doch kein Lüftchen wagt sich hinein. Schwüle 30 Grad wabern durch den Raum. Meine klebrigen Arme liegen schwer auf dem Tresen. Träge verfolge ich die Arbeit des Barkeepers. Sein Arbeitsbereich wird von zwei mannshohen Kühlschränken umrahmt, deren Plastiktüren einen Blick ins erleuchtete Innenleben gewähren. Im ersten träumt eine Wasserflasche mutterseelenallein von ihrem baldigen Verkauf. Die zweite Kühlbox ist prall gefüllt mit Bierdosen, die sich Cristal oder Bucanero auf den Bauch drucken ließen. Dazwischen ein Regal aus dunklem Holz, das Erinnerungen an deutsche Schrankwände des letzten Jahrhunderts wachruft und mit Spirituosen jedweder Art gefüllt ist. Allen voran El Ron de Cuba. Farblos, gelblich oder samtbraun, was immer das Herz begehrt. Ich gebe den ersten Mojito in Auftrag.
Die Bar ist gut gefüllt. Rund um die wenigen Tische haben korpulente Sen͂oras mit wuchtigen Busen Platz genommen und schwatzen unablässig auf ihre Begleiter ein, zauselige Herren mit verlebtem Antlitz. Direkt vor der Toilettentür hat eine Band Instrumente und Mikrofone aufgebaut. Septeto Los Gimez, sieben Veteranen, die andernorts im Seniorenheim säßen, bringen in Stellung. Der Bass wird gestimmt und die Tres umgehängt. Der Percussionist begibt sich hinter seine Bongos, Maracas rasseln Bereitschaft. „Es geht los“, wird in die Runde gerufen. Rhythmushölzer geben den Takt vor, dann füllt Musik explosionsartig den Raum.
Zu erschöpft um zu erschrecken, schlürfe ich weiter ungerührt Pfefferminze, Zucker und Rum in mich hinein. Die restliche Szenerie dagegen ist wie verwandelt. Eben noch unverrückbare Monumente ihrer selbst, scheinen die schweren Damen nur auf diesen Moment gewartet zu haben, springen auf und schwingen mit ungeahnter Leichtigkeit die Hüften. Zwei Barhocker neben mir zappelt ein Leib verzückt herum bis es auch ihn nicht mehr hält und er Teil des ausgelassen tanzenden Publikums wird. Langsam gewöhnen sich meine Ohren an die Geräuschkulisse, nehmen Takt und Struktur einzelner Songs wahr. Die Stimmen, anfangs nur blechern und ungestüm, schmeicheln mit unerhörtem Charme, ziehen auch mich nach und nach in die Tiefe der kubanischen Nacht.
Kurz vor Ende des ersten Sets laufen Publikum und Band zur Höchstform auf. Die Gruppe interpretiert den wohl berühmtesten Song Kubas, lässt dabei Geschichte und Gegenwart der lateinamerikanischen Heimat an diesem Ort wie selbstverständlich ineinanderfließen: Musik und Lebensfreude, Revolution und Che Guevara, Heldentum und Santa Clara.
„Hasta Siempre, Comandante“, das ewige Lied, 1965 vom kubanischen Komponisten Carlos Pueblas geschrieben, erzählt vom Kampf des Revolutionärs Che Guevara und gilt als Antwort auf dessen mutmaßlichen Abschiedsbrief an Fidel Castro und das kubanische Volk. Unzählige Coverversionen haben seither das Lied in alle Ecken der Welt getragen. Von Robert Wyatt bis Al Di Meola, beinahe jeder Musiker hat sich daran versucht. Wolf Biermann sang eine deutsche Version bei seinem Kölner Konzert im Jahr 1976, nur wenige Momente vor seiner Ausbürgerung. In Verbindung mit dem vom Fotografen Alberto Korda festgehaltenen Konterfei, hat das Lied die Person Ernesto Rafael Guevara de la Serna zu einem unerreichbaren Mythos heranwachsen lassen, zu einem Titan der politischen Popkultur, neben dem bis heute sämtliche weiteren Anwärter auf eben diesen Thron ziemlich blass aussehen.
Auch Santa Clara findet Erwähnung im Lied. „Tu mano gloriosa y fuerte, sobre la Historia dispara, cuando todo Santa Clara, se despierta para verte.“ Die Stadt liegt 280 km östlich von Havanna, 100 km südlich der Jardines del Rey, wie die Koralleninseln an der Atlantikküste Kubas genannt werden. Anders als die Touristenhochburgen Havanna, Varadero oder Trinidad kommt der Ort bescheiden daher. Der Parque Leoncio Vidal ist nicht nur das Zentrum der Stadt, sondern ein öffentlicher Raum, in dem sich alle Generationen treffen, um zu schwatzen, ab und an eine Flasche Rum zu leeren. Hier ist immer Bewegung, immer etwas los. In bunter Reihenfolge begeistern Tanzgruppen in aufwendigen Kostümen und junge Männer auf Rollerblades, die ihre neuesten Moves vorführen. Selbst Kinder verstehen es, mit ihren lautstarken Spielen die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zu ziehen. Im Pavillon am Nordende des Platzes kann man Musiker mit klassisch-kubanischem Repertoire erleben. Manchmal wird sogar ein Flatscreen aufgestellt, der nicht nur Fußball, sondern auch klassische Konzerte überträgt.
Auf dem Weg nach Santiago de Chile oder Trinidad eilen die touristischen Karawanen nur allzu oft an Santa Clara vorbei, verirren sich höchstens für einen kurzen Tagesausflug hierher, um das Wahrzeichen des Ortes, die Plaza del Che mit dem Monumento Memorial, einer fast 7 m hohen auf einem 6 m hohen Sockel thronenden Bronzestatue des Kämpfers, zu besuchen. Im Mausoleum nebenan liegt sein 1997 von Archäologen in Bolivien wiederentdeckter und umgehend nach Kuba zurückgeführter Leichnam. Ein übergroßes Areal, das durchaus zu beeindrucken weiß. Viele weibliche Besucher lassen sich ausgiebig vor dem Monument des Mannes fotografieren, der nach wie vor einen ganz besonderen Sex-Appeal ausstrahlt.
Che Guevara wurde 1928 im argentinischen Rosario geboren und lernte Fidel Castro 1955 in Mexiko kennen. Als 81 Exilkubaner 1956 mit der Yacht Granma in Richtung Kuba ausliefen, war er mit an Bord und kämpfte fortan in den Reihen von Castros Rebellenbewegung „Movimiento 26 de Julio“, kurz M-26-7. 1957 zum Comandante befördert, feierte er ein Jahr später mit der von ihm angeführten Eroberung Santa Claras gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Batista-Truppen seinen größten militärischen Triumpf und verhalf der Revolution zum entscheidenden Durchbruch. Das globale Symbol für den Kampf gegen Imperialismus und Unterdrückung war geboren. Zwei Monate darauf erhielt der Argentinier, die kubanische Staatsangehörigkeit. Das Land lag ihm zu Füßen.
Doch Feierlichkeiten währen meist kurz. Schon bald war sein Zenit überschritten, 1959 wurde der erfolgreiche Guerilla-Kämpfer zum Präsidenten der Nationalbank befördert. Che Guevara ein Banker? Man hatte den Bock zum Gärtner gemacht. Sein Stern begann zu sinken. Nach einem Zerwürfnis mit Fidel Castro verließ er Kuba 1965 und soll besagten Abschiedsbrief hinterlassen haben, dessen Inhalt in eine riesige Steintafel auf der Plaza del Che gemeißelt wurde.
In dieser Stadt ist seine Popularität ungebrochen, nimmt spürbar Form an, wenn in der kleinen verschwitzten Bar La Marquesina ein Tänzer mit glänzenden Augen vor einer über dem Tresen hängenden Fahne mit dem Abbild Che Guevaras Haltung annimmt und salutiert. Gleich daneben hängt die Flagge Kataloniens, die Estalada Brava, die nach dem Vorbild der kubanischen Nationalflagge entworfen wurde.
Los Gimez startet den zweiten Durchgang. Das Ende der 1950er Jahre gegründete Septeto um Bandleader Jesús Vicente Gimeranez Fernández bringt nun mühelos kubanisches Lebensgefühl zum Klingen: Liebe, Lust und Leidenschaft lassen das Publikum erneut aufspringen und die überall herumstehenden Rumflaschen vergessen.
Kuba ist Musik? Oh ja. Kein Cliché. Rumba, Salsa oder Cha-Cha-Cha haben hier ihre Wurzeln. Selbst Lou Begas Welthit „Mambo No. 5“ wurde in der Originalversion vom König des Mambo, dem in Matanzas geborenen Dámaso Perez Prado, komponiert. Kubanische Rhythmen sind eine Liaison der Musik afrikanischer Sklaven und europäischer Einwanderer. „Eine Liebesbeziehung zwischen der afrikanischen Trommel und der spanischen Gitarre“, wie Musikethnologe Fernando Ortíz Fernández einmal schrieb. Als Herz dieser Liebesbeziehung kann wohl der Son bezeichnet werden, die Musik der einfachen Landarbeiter, „ein zu Klang gewordener Rum, den man mit den Ohren trinkt“ – Mutter aller kubanischen Musikstile, von Rumba, Salsa, Mambo und Cha-Cha-Cha bis hin zu Guaracha, Danzón und Trova. Beinahe wäre die „Musica múlata“ in Vergessenheit geraten, wenn nicht der US-amerikanische Musiker Ry Cooder die Son-Veteranen um Compay Segundo und Ibrahim Ferrer zusammengetrommelt hätte. Das von Wim Wenders verfilmte Band-Projekt „Buena Vista Social Club“ machte den Son, die „Musik der Alten“, Ende der 1990er Jahre weltberühmt.
Wenn Musik ertönt, wird in Santa Clara spontan auf der Straße getanzt. Selbst in den Seitenstraßen dröhnen unentwegt Klänge aus den Fenstern, nicht selten Reagaton, der aktuell bei der jungen Bevölkerung wohl beliebteste Stil. In dieser Stadt gehört Musik zum gelebten Alltag, während sie anderswo nicht zuletzt ein Touristending ist.
Dort, in den Besucherzentren von Havanna, Varadero oder Trinidad, ziehen die Combos allabendlich von Lokal zu Lokal. Die meisten dieser Darbietungen haben mit echter Rumba, Trova oder auch dem Son nicht mehr viel zu tun, werden zu westlichen Schunkelrhythmen verschrammelt, was den meisten nicht aufzufallen scheint. Im Gegenteil, die Gäste aalen sich im Kuba-Feeling. Männer schnippen ungelenk den Takt mit den Fingern, während ihre Partnerinnen die steifen Körper verrenken. Erotik-Königinnen der Nacht. Ach, diese Touris.
In der Bar La Marquesina in Santa Clara hingegen endet ein ganz normaler Abend. Die Musik verstummt, ein Hauch Melancholie macht sich breit. Jenes Gefühl, das einen ergreift, wenn etwas vergeht. Von dem man nicht weiß, was danach kommen wird. Sicher ist nur, dass Che Guevaras Lied in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert.
Otra Más und Hasta Siempre, Cuba!
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Text: Sarah Paulus (www.sarahpaulus.de)
Foto: Rolf G. Wackenberg (www.wackenberg.com)