Wie es dazu kam
Das Seeufer wird von einer betagten Birke überragt. Im weichen Moos direkt an ihrem Stamm wächst Gevatter Geißpilz, auch Birkenröhrling genannt. Wir rappeln uns langsam aus den Daunen und blinzeln in die Morgensonne.
„Baden?“ Natürlich. Um uns herum keine Menschenseele. Nur ein jugendlicher Hirschbock, der verträumt durch den Tannenwald hüpft und plötzlich, keine hundert Meter vor uns, zum Stehen kommt. Reichlich spät bemerkt er uns Eindringlinge, nimmt hektisch Witterung auf und flitzt, wie von der Tarantel gestochen, zurück ins Dickicht. Wieder allein. Irgendwo. Nirgendwo. Zwischen knorrigen Tannen und raschelnden Birken.
Seit Jahren reisen mein Fotograf Rolf G. Wackenberg und ich für Reportagen durch die Welt. Auf greisen Schiffen und Schusters Rappen. Wir haben schon vieles gesehen und erprobt. Verrostete Busse, marode Züge, einsame Gegenden. Beim Reisen kann uns so leicht nichts mehr überraschen. Wir könnten also einfach aufhören, alle Projekte fallen lassen, die alten Reisegeschichten ein aufs andere Mal wiederholen und den Freunden damit gut bürgerlich auf die Nerven fallen.
Doch der Reiz des Unbekannten setzt uns weiter zu. Wir stehen ständig unter Druck. Wie kann ihm Einhalt geboten werden? Im steten Überbieten des bisher Erlebten? Durch immer ausgefallenere Touren zu noch ferneren Ziele? Nur: „Warum in die Ferne schweifen?“, fragte schon Goethe in seiner „Erinnerung“, der als Reisender, vor allem aber Dichter und Denker, Ferne nicht ausschließlich als geographische Dimension verstanden haben wollte. Liegt uns, nur so als Beispiel, der Robinson Club ferner als eine Nordpolexpedition? Und gibt es Ferneres als Reisen mit Hymer, Bürstner oder Tabbert?
„Nein“, konstatierte Rolf erschrocken und suchte nach Ausflüchten. Er wusste, was ihm blüht. Wir hatten eine Anfrage erhalten und lange darüber diskutiert. Eine Reportage sollte es sein. Camping in seiner puren Form. Miniparzellen. Kunstrasen und Akkustaubsauger. Blümchenrabatten. Neugierige Nachbarn. Die große Freiheit hinter Vorzelt, Windschutz und Sonnensegel. Sehr bitter.
Zu fern für uns Individualisten. So drehten wir den Spieß um und wollten campen. Aber mit Schmackes. Weder mit allen, noch wie alle. Ohne Dethleffs. Einfach anders. Individuell. Wild. Vier Wochen lang.
In welchem europäischen Land kann man frei campen? Lässt sich eine solche Idee heutzutage überhaupt realisieren? Welche Erfahrungen brachte uns das Experiment ein? Und wo trafen wir besagten Hirschbock?
Davon berichten die nun im Wochenrhythmus folgenden fünf Artikel unserer Dokumentation: Zeltplatz kann jeder.
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Text: Sarah Paulus (www.sarahpaulus.de)
Foto: Rolf G. Wackenberg (www.wackenberg.com)