Aschfahl glänzt das Gesicht. Maskenartig. Ein starrer Blick aus weit aufgerissenen Augen. Der Atem rasselt, während der leblose Körper von zwei kräftigen Männern auf einen Rollstuhl gehievt wird. Auch der hat schon bessere Tage gesehen. Nur mit Mühe können die langen Beine des Kranken auf die Fußschiene gestellt werden. Die Knie reichen nun beinahe bis zum Kinn. Ein Rucksack wird dazwischen gestopft. Den Rest des Gepäcks schultere ich. „Mzungu“, schreit ein Mädchen und zeigt mit dem Finger auf die zusammengesunkene Gestalt. Es ist 10.30 Uhr an einem sonnigen Tag in Afrika. Endstation Hospital Kibondo.
Geplant war das nicht. Aber was kann man schon planen in Afrika. Vorgesehen war eine Reise durch Sambia und Tansania, um eine Reportage zu schreiben. Mein Fotograf und ich hatten bereits mehr als 2.000 km hinter uns gebracht. Von Dar es Salaam über Kasama und Mpulungu nach Kigoma. In eine Region, die mit außergewöhnlich reizvollen Attraktionen punkten kann. Dem Mahale Mountains und dem Gombe Nationalpark. Der David Livingstone Gedenkstätte in Ujiji. Dem farbenprächtigen Tanganjikasee, sechstgrößter und zweittiefster der Welt, dessen Wasser je nach Sonneneinstrahlung von kobalt-blau bis smaragd-grün schimmert. Nun sollte es nach Bukoba am Victoriasee gehen. Eine Strecke von knapp 600 km, etwa 8-10 Stunden mit dem Bus, für die sich Adventure Tours anboten. Ein Name, der Programm werden sollte. Doch der Reihe nach.
Vermutlich begann die Misere mit der üblicherweise unglücklichen Verkettung von Umständen, die, jeder für sich betrachtet, harmlos gewesen wären. Eine Lariam Tablette, als Prophylaxe gegen Malaria gedacht. Dazu ein deftiges Curry und eine Ananas vom Markt. Vielleicht waren die Gründe auch ganz andere. Wer weiß das schon. Unbestritten hingegen die Folgen. Durchschlagende Symptome, so dass mein Fotograf die Nacht weniger mit Schlafen als mit anderen Verrichtungen verbrachte.
Durchfall und Busfahren sind so wenig kompatibel wie Höhenangst und Hochseilakrobatik. Erst recht in tansanischen Bussen, bei denen es sich meist um ausgediente Fabrikate mit unverkennbar indischem Look and Feel handelt. Vorhänge, Kordeln und viel Gebammel stechen jeglichen Wellness-Schnickschnack wie Klimaanlage und Bord-WC aus. Annehmlichkeiten wie diese gibt es nur in den zwischen Dar es Salaam und Arusha verkehrenden „Luxury“ Bussen der Gesellschaft Dar Express. Anderswo hat man die hintere Bustür zur Attrappe degradiert und den freien Raum mit einer weiteren Sitzreihe zugestellt. Form follows Function, lautet wohl die Devise. Das bedeutet, konsequente Fokussierung des Gefährts auf sein Kerngeschäft. Fahren. Transportieren.
Passend zum rustikalen Gefährt ist auch der erste Teil der Straße von Kigoma nach Bukoba nichts für sensible Gemüter. Eine sandige Berg- und Talbahn, die kein europäischer PKW überleben würde. Dementsprechend gibt es jede Menge LKWs und Überlandbusse, die mit gefühlt 80 km/h über jedes noch so große Schlagloch jagen und eine Staubwolke aus rost-roter Erde hinterlassen. Feinstaub ist was für Feingeister, denke ich, während die Bandscheiben hysterisch knirschen und der Gleichgewichtssinn vergeblich nach Fixpunkten sucht. In der vorbei rauschenden Landschaft aus Palmen, Hügeln und Bananenfeldern, Lehmhütten oder auch Menschen am Pistenrand, die durch roten Smog laufen oder Rad fahren. Manchmal sogar Steine transportieren. Die halten ganz schön was aus. Im Bus ist die Lage derweil angespannt.
Imodium akut hat ganze Arbeit geleistet. Der Kreislauf hingegen verweigert sich und bricht mehrmals zusammen. Einmal müssen sie den Bus sogar anhalten und den Bewusstlosen nach draußen tragen, damit er wieder zur Besinnung kommt. Nach dieser Aktion sind selbst die hart gesottenen Einheimischen besorgt und stoppen den Bus kurze Zeit später erneut. 240 km von Kigoma entfernt, mehr als 300 von Bukoba und 1.300 km von Dar es Salaam. In der Mitte von Nirgendwo. Umgeben von sanften Hügeln mit üppiger Vegetation. Direkt vor dem District Hospital von Kibondo.
Das Hospital ist eine terrassenförmig angelegte Anlage, die 1954 als staatliches Krankenhaus errichtet wurde. Es besteht aus mehreren flachen Bauten mit Dächern aus Wellblech, die man durchaus Baracken nennen könnte. Die meisten dienen der stationären Unterbringung, während sich im Haupthaus direkt an der Straße ambulante Behandlungsräume sowie die Anmeldung befinden. Hier warten Scharen bunt betuchter Menschen, meist Frauen und Kinder, die nun alle den „Mzungu“, den fremden Weißen sehen wollen. Der erweist seiner Bezeichnung alle Ehre. Die Gesichtsfarbe ist von aschfahl in kreidebleich gewechselt, der Kopf auf die Brust gefallen, teilnahmslos hin und her schaukelnd.
Pfleger eilen herbei. Doch bevor der Patient behandelt werden kann, muss ein Formular ausgefüllt werden. Wie überall in Afrika. In Museen, Behörden, Hotels. So auch hier. Während ich artig schreibe, suchen die Pfleger nach einem freien Arzt. Vorerst vergeblich. Formular ausgefüllt, Patient tot.
„Können wir ihn nicht irgendwo hinlegen. Notfalls auf die Erde“, rufe ich verzweifelt in ein offenes Arztzimmer. „Auf keinen Fall. Nicht auf die Erde“, antwortet Dr. Florian Tinuga, obwohl er gerade einen anderen Patienten betreut. „Wir haben Zimmer für Euch“. Dort wird der Patient nun in die Waagerechte gebracht. Die Stirn ist kalt. Ein Tropfen Schweiß rollt über die Schläfe. Nach wenigen Minuten ein mattes Lächeln. Gott sei Dank. Oder besser „Mungu ni Mweza“, Gott ist groß, wie auf vielen Bussen zu lesen ist, die durch Tansania rollen.
Wer durch Afrika reist, sucht Abenteuer und Exotik – diesseits oder jenseits von Safaris und Palmenstränden. Ebenso klingen auch die Risiken für Leib und Seele, von denen die Internetseite des Auswärtigen Amtes lediglich die prominentesten nennt: Dengue-Fieber, Bilharziose, Typhus, Schlafkrankheit, Cholera, Malaria. Hin und wieder Pestausbrüche. Hinzu kommen Infektionsrisiken jeglicher Art sowie Beschwerden und Befindlichkeiten, die schlichtweg aus der Kombination von ungewohnten klimatischen Verhältnissen, Ernährungsstandards und Reisestrapazen entstehen können. „Unvorbereitetes Wegeilen bringt unglückliche Wiederkehr“, wusste schon Goethe. Malaria und Cholera sind allemal schlimmer als Impfungen und Prophylaxen, auch wenn die Beipackzettel von Lariam & Co. mit einer Liste von Grausamkeiten aufwarten. Ebenfalls ins Gepäck gehört eine Portion gesunder Menschenverstand, idealerweise in Kombination mit Gelassenheit. Angst ist bekanntlich ein schlechter Reisebegleiter. Vor dem Huhn vom Straßengrill muss man sich nicht notwendigerweise fürchten, denn auch die Kulisse eines 4-Sterne-Restaurants schützt nicht zwangsläufig vor mangelnder Hygiene, die Afrika in Kombination mit Hitze und Armut nach wie vor unberechenbar macht. Wer Abenteuer sucht, muss mit Risiken umgehen. Leicht gesagt, wenn der Ernstfall tatsächlich eintritt.
Im Kibondo Hospital kämpft Schwester Jane mit den Gerätschaften. Die Messung von Blutdruck und Blutzucker sieht eher nach „Jugend Forscht“ als professioneller Routine aus. Dr. Tinuga schaut seelenruhig zu und hinterfragt den Krankheitsverlauf. „Kein Imodium. Keine Bananen. Nur Wasser und Brot“, befindet er und ordnet einen Tropf mit Elektrolyten an. „Muss das sein?“, frage ich skeptisch. Meine Hände zittern. Das Herz beginnt zu rasen. „Nein“, schreit es in meinem Kopf, denn die Erinnerung ist sofort präsent.
Zwei Wochen vorher. Wir fuhren mit dem Zug von Dar es Salaam nach Kasama. Plötzlich Halt auf freier Strecke. Ein Mann erlitt einen Zusammenbruch und musste in ein nahe gelegenes Krankenhaus transportiert werden. Der Zug wartete. Seine Insassen stiegen aus und plauderten. „Kreislauf“, erzählte ein Zugbegleiter. „Probleme mit dem Blutdruck“. 30 Minuten später wurde der Patient nebst Tropf zurück gebracht und die Fahrt fortgesetzt. Weitere vier Stunden später war er tot.
„Wir verwenden sterile Nadeln“, holt mich Dr. Tinuga in die Gegenwart zurück. Den Grund meiner Hysterie kennt er nicht. Er will beruhigen und öffnet stattdessen neue Angstbaustellen. AIDS, Blutvergiftung, Hepatitis. Auch der Patient schüttelt energisch den Kopf. Der Doktor hingegen bleibt hartnäckig. „Glauben Sie mir, es ist besser so. Sie brauchen Flüssigkeit.“ Das Vorhaben muss allerdings aufgegeben werden, weil die Blutgefäße des Patienten für die Schwester unauffindbar sind. „Stopp“, höre ich mich sagen. „Bitte keine Infusion.“ Vielleicht soll nicht sein, was nicht geht. Dr. Tinuga nickt nachdenklich und lässt die rabiaten Bohrversuche abbrechen. Stattdessen soll mir Schwester Jane nun die sanitären Einrichtungen des Krankenhauses zeigen. Pro Baracke eine Toilette. Typisch afrikanisch, gleichermaßen französisch, mit Loch in der Erde. Ein hüfthoher Wasserhahn ohne Becken. Als wir zurückkommen, ist der Kranke eingeschlafen.
Zeit für Reinigungsarbeiten. Nach vierstündigem Ritt über rostrote Pisten sehen wir aus, als hätten wir den Mars umgegraben. Ich spanne eine Leine, dusche den Rucksack und stauche Wäsche in einer Plastikschüssel. Auf dem Boden sitzend. Ganz ruhig seltsamerweise, meine profanen Verrichtungen abarbeitend wie ein Mantra. Jane schaut vorbei und lächelt. „Wie geht es ihnen?“, fragt sie, das letzte Wort betonend. Port Moresby, der Romanheld aus „Himmel über der Wüste“, musste sterben, weil ihm kein Krankenhaus zur Verfügung stand. Dagegen geht es uns vergleichsweise gut, finde ich.
„Cholera ist es nicht“, schließt Dr. Tinuga aus. Die Sorge war nicht unberechtigt, denn wir haben vier Tage in Mpulungu verbracht, wo die Krankheit wenige Tage vor unserer Ankunft ausgebrochen war. Dann setzen wir uns auf eine Bank vor unserer Baracke, in der es nur Zweimannzimmer gibt. Karge schlichte Räume mit Steinfußboden, ölfarbenen Wänden, Betten mit zerschlissenen Matratzen und einem kleinen Ablagetischchen. Nebenan liegt ein Kind. Ein Zimmer weiter eine ältere Frau, die unablässig stöhnt. Beide von einer Schar Verwandten umgeben. „150 Patienten kann das Hospital aufnehmen“, sagt der Doktor. „Die meisten bringen wir in Mehrbettzimmern unter.“ Verpflegung werde nur in speziellen Fällen wie Unterernährung angeboten oder auch AIDS. Nach wie vor sorgt die Krankheit für hohe Todesraten und eine entsprechend geringe Lebenserwartung von nur 53 Jahren, die weltweit nur in Nigeria und Indien unterboten wird. Ferner in Südafrika, wo die Menschen im Durchschnitt nur 49 Jahre alt werden.
Im Kibondo District Hospital sind es neben AIDS im Wesentlichen Malaria, Atemwegserkrankungen, Lungenentzündungen und Durchfälle, mit denen die zehn Assistenzärzte und 60 Schwestern zu kämpfen haben. Dr. Tinuga, 34 Jahre alt, Master in Public Health, der sich „Medical Officer“ nennt und pro Tag etwa 70 Patienten behandelt, ist der ranghöchste Arzt. Er bewohnt das Nachbargrundstück, zusammen mit Frau und Kind.
Einzugsgebiet Hospitals ist der gleichnamige Verwaltungsbezirk mit seinen 414.764 Einwohnern, der zur Region Kigoma gehört. In Anlehnung an die Verwaltungsstruktur des Landes baut sich das Gesundheitssystem mehrstufig auf. Apotheken und Gesundheitszentren in ländlichen Gebieten, dann Bezirks- und Regionalkrankenhäuser. Letztere verfügen über Fachärzte wie Chirurgen oder Kinderärzte, die in den Einrichtungen auf Bezirksebene fehlen. Der überwiegende Teil der medizinischen Versorgung erfolgt durch staatliche Einrichtungen. So gibt es im Bezirk Kibondo 66 Apotheken, davon sieben private, vier Gesundheitszentren und ein Krankenhaus. Den 1,68 Mio. Einwohnern der Region Kigoma stehen fünf Krankenhäuser zur Verfügung, darunter zwei private.
Gegen Abend in Kibondo. Nachdem der deutsche Patient in den vergangenen Stunden liebevoll von Schwester Jane und vielen anderen umsorgt wurde, scheint er es über den Berg geschafft zu haben. Pfleger Simon, der auch immer mal wieder unter einem Vorwand vorbei schaute, bringt das Defilé auf den Punkt: „Wir haben hier noch nie einen kranken Weißen gehabt.“ Später erscheint weiterer Besuch. Abdallah Ramadhani, Repräsentant der Busgesellschaft „Adventure Tours“ in Kibondo, der das Malheur bedauert und Hilfe anbietet. Ob er jemanden informieren könne? Plätze im nächsten Bus organisieren soll? Oder besser gleich einen Wagen mit Chauffeur? Ein Angebot, das uns vernünftig erscheint. Bequem in Richtung Hauptstadt reisen. Zumindest für eine Teilstrecke.
Am nächsten Morgen, nach einer der friedlichsten und erholsamsten Nächte, die wir in Afrika erlebt haben, ist der Patient obenauf, lebenslustig und voller Pläne. Wir nehmen Abdallahs Angebot an. Dr. Tinuga gibt seinen Segen, auch wenn er uns gern länger beherbergt hätte. „Kahama, Nzega, Singida. Dort gibt es überall Krankenhäuser“, erklärt er die Wegstrecke für den Notfall und ergänzt: „Es war gut, dass ihr hier her gekommen seid. Viele versuchen, zu lange durchzuhalten. Manchmal ist es zu spät.“
Schwester Jane bringt die Rechnung: 2,50 EUR!
Verdammt wenig Geld für viel Lebenserfahrung und eine große Portion Glück, die uns im Hospital Kibondo verweilen ließ, wo Mutter Afrika eine Lektion in Bescheidenheit und Demut erteilte. In der Mitte von Nirgendwo, wo Beistand und Kümmern all das ersetzt, was Hochleistungsmedizin in Deutschland ist. Heimische Selbstverständlichkeiten, die anderswo keine sind. Zuweilen auch umgekehrt.