Deutschland: Krawall im Sommerloch

„Betreten verboten“, warnt ein in die Jahre gekommenes Schild hinter dem wuchtigen Eisengitter, das sich für unbezwingbar hält. „Eltern haften für ihre Kinder“. Na, wenn das so ist, denken die Ankömmlinge. Rucksäcke, Faltstühle, Kühltaschen nebst Begleitern, die das verborgene Areal sogleich entern. Behände wie Baum-Aktivisten. In nullkommanix sind wir drin. Mitten hinein in ein Epizentrum der Stille, das lediglich vom Grundrauschen der nahen Autobahn und vom Wiehern ungestümer Hengste untermalt wird, die sich auf der angrenzenden Pferdekoppel trollen. Ein Ort, den ich seit Jahren im Augenwinkel habe und der mir bei jeder Fahrt zur Autobahn zuraunt: „Komm rein“. Leise, wispernd, kaum hörbar. Stimmen von brusthohen Gräsern, die mit blühendem Wildwuchs lasziv im Wind schaukeln. Die Melodie eines vergessenen Ortes singend, von denen es immer weniger in Berlin gibt. Weil diese Stadt auf absehbare Zeit München gleichen wird.

Noch ist es jedoch nicht so weit. Mitten im Transitraum der Leere sitze ich auf meinem grünen Faltstuhl. In der linken Hand ein Glas mit französischem Landwein. Billig aber leichtläufig. In der Rechten eine Kippe, die eifrig glühend vor sich hin dampft, als seien ihre Minuten gezählt. Um mich tanzt der August mit dem warmen Licht kürzer werdender Tage. Verschluckt all jene, die sich nicht rechtzeitig hinter Werksferien und Sommerpausen in Sicherheit bringen konnten. So auch mich und jene, die sich mit mir auf eine Reise ins Nichts begeben. Im Lichte der Vergänglichkeit kindlicher Sternschnuppen. Im Schlepptau einer nimmermüden Journaillenschaft, die die verbliebenen Claqueure artgerecht begrüßt: Willkommen in der Multiplayer Variante des Sommerlochs. Jeder kann mitmachen. Wer dabei sein darf, entscheiden allein wir.

Dabei sein ist alles. Mitmachen bedeutet nichts. Weil es nichts zu machen gibt. Denn das Sommerloch ist nichts anderes als die blutleere Variante einer alljährlicher Menstruation, ohne jedoch auf die obligatorische Hysterie zu verzichten. Somit eine Reise durch inhaltliche Leerung, die vom irrlichternden Aufflackern geistloser Phänomene begleitet wird.

Ein Phänomen ist das Wetter selbst. Uns als solches weitestgehend bekannt. So etwas wie Wetter gibt es jeden Tag, nicht nur an Ostern oder Pfingsten. Allesamt gern gesehene Anlässe, um etwas zu berichten, wenn es nichts zu berichten gibt. Dieser Tage also das Sommerwetter. Und wie es die Deutschen schaffen, damit umzugehen. Latte Macchiato schlürfend an der Isar oder mit Gummistiefeln nebst plärrender Kinder durchs verregnete Wattenmeer stapfend.

Hier in meinem persönlichen Sommerloch, inmitten dieser riesigen Brachlandschaft, die sich entlang eines mehrere Hundert Meter langen Asphaltweges ausbreitet, der einst eine Straße gewesen sein mag. Das Quecksilber erklimmt 25 Grad. Temperatur, die perfekt mit einigen Schleierwolken weiter oben changiert. Und dem Säuseln von Herrn Wind, dem Charmeur, der am liebsten mit Pappelblättern spielt. Weil sie so schön rascheln. Pappeln gibt es hier einige. Kräftig wie Bollwerke den Stürmen der Zeit trotzend. Andere darnieder liegend. Zwischen maroden Baracken, an denen die Vergänglichkeit hungrig nagt. Einstürzende Dachstühle und zerborstene Fenster. Farbkleckse von Graffitis allerorten. Darüber krabbeln Spinnen, um ein Plätzchen fürs Sonnenbad zu suchen. So schön kann es hier sein.

Ein weiteres Phänomen des medialen Lochs ist seine Inkarnation schlechthin: Der ZDF Sommergarten. Dort erzählt Armin Roßmeier, der wohl dienstälteste Fernsehkoch Europas, wie Proviant für unterwegs bereitet wird. Damit er „frisch und appetitlich bleibt“. Ganz bestimmt eine Bildungslücke der Deutschen, vermutet das ZDF und lässt Roßmeier bis zur Kurzatmigkeit ackern. Die gebleichte Fönfrisur hingegen sitzt und sitzt und sitzt. Bis das letzte Röllchen gerollt ist. Bouletten und Kartoffelsalat waren gestern. Im ZDF geht keine Reiseproviant einfach nur als solcher durch. Er muss wenigstens Brezenpflanzerl, Gemüse-Ei-Röllchen oder Corned Beef-Ajvar-Dreispitz gerufen werden. „Schaaatz, möchtest Du ein Corned Beef-Ajvar-Dreispitz? Die sind der Burner!“ Allein der Gedanke macht kurzatmig. Ganz zu schweigen vom psychischen Druck, den das GEZ-TV bei seinem Stammpublikum aufbaut. 61 Jahre alt. Im Durchschnitt. Nun soll es Brezenpflanzerl bauen, weil vorher alles Mist war. Die Schnittchen langweilig, die Eier zu hart.

Auf der Berliner Brache wird derweil Holzkohle gezündet. Sie ist nicht mehr ganz frisch, weil der Sommer so unstet war und auch schon im letzten Jahr reichlich nass. Frisch und appetitlich vom Discounter hingegen der Inhalt unserer Kühlboxen: Holzfällersteaks in Kräutermarinade, Hühnchenbrust in Schwarzwälder Schinken gewickelt, Tomaten und Ciabattabrot mit Oliven. Nur eines stört das kulinarische Laissez-faire. Drei Frauenstimmen, die aus dem Transistorradio plärren.

Nadeschda, Jekaterina und Marija, die gern eine Punkband sein wollen, Headliner des diesjährigen Sommerlochs. Muschikrawall aus Rußland. Passend zum Anlass. Drei Mädels, die sich in Ermanglung eines interessanteren Äußeren bunte Strickmasken übers Gesicht ziehen, haben sich vor dem Altar einer orthodoxen Kirche, die sie als Scheiße des Herrn bezeichnen, den Heiligen Putin zur Brust genommen. Nun sitzen sie hinter Gittern und werden dort wohl noch eine Weile bleiben. Zwei Jahre Gulag. Unerhört, nur damit kein falscher Eindruck entsteht. In Russland selbst aber interessieren sich nur magere 18% der Bevölkerung für das Pussi-Phänomen. So jedenfalls eine Umfrage, die von regimekritischen Kreisen in Auftrag gegeben wurde.

In Deutschland, wo selbst Jeanette Biederman als Rockröhre gilt, ruft die Kombination von Muschis, Strickmützen und Altargeschrei lustvolles Schaudern hervor. Allein des Schauderns wegen. Und weil das so schön ist, üben sich Nachrichtensprecher jedweder Sender in der permanenten Wiederholung des Bandnamens. So als führe allein die bloße Artikulation zu einem Monster-Orgasmus. Schrill, unflätig. Vor allem laut. Da schaltet man jenseits der 40 normalerweise ab. Dieser Tage schalten dagegen viele Nachbarn zu. Gestandene Honorationen aus Kunst und Politik. Von Klaus Staeck, dem Präsidenten der Akademie der Künste bis hin zu Außenminister Westerwelle. Allesamt um Entrüstung bemüht. Oder um Eigenwerbung à la Peaches oder Madonna. Leider kontraproduktiv.  Als hätte niemand aus der Aufregung um die ukrainische Gaskönigin gelernt. Als gäbe es nichts Wichtiges. Die toten Minenarbeiter in Südafrika etwa, für die sich aber keine Sau interessiert. Haben halt keine Muschis.

Was tut man also, wenn sich die Berliner Republik am Sommerloch verschluckt? Die Antwort ist einfach. Wetterbericht hören, Stullen schmieren und gut kauen. Sonnencreme nicht vergessen. Das Radio leiser stellen. Blutdruck senken und die Schönheit altberliner Brachen genießen. Wo fettes Moos über Parkplätze von einst wuchert. Relikte vergangenen Unternehmertums, dessen Wirkungsstätte von Mutter Natur zurückerobert wird. Leise und unauffällig. Ganz ohne Krawall.

Über Sarah Paulus

Ich bin freie Autorin mit Fokus auf Reportagen und aktuelle Themen rund um Reise, Politik, Menschen und Kultur. Meine Artikel und Reportagen wurden u.a. in der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Morgenpost, dem Tagesspiegel, der Welt/Welt am Sonntag, bei Spiegel Online sowie in diversen Magazinen veröffentlicht. Sarah Paulus
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