Deutschland: Quo vadis Graffitibox – Von einem der auszog, das Leben zu lernen

Nebelschwaden kriechen durch die Gemäuer einer verfallenen Fabrikanlage. Betreten verboten! Das Gelände ist übersät von Zivilisationsmüll. In der Ferne räudiges Schnauzen zweier Köter. So als wollten sie aneinander ersticken. Eine vermummte Gestalt schaudert, doch nicht von der feucht-kalten Nachtluft. Es ist 3 Uhr morgens. Jemand schreit. Die Gestalt bewegt sich nun hektisch. Noch ist das Werk nicht vollendet.

Filmkulisse oder wahres Leben? Einer, der beides kennt, heißt Dennis Thimm, geboren 1980 in Steglitz. Im Süden von Berlin. Wo Alltag zwischen Alliierten und Mauerwerk stattfand und Kindheit im geteilten Deutschland ein abstraktes Phänomen blieb, das nur bei gelegentlichen Urlaubsfahrten realisiert wurde. Wo Jugend unweigerlich der Faszination amerikanischer Hip Hop Kultur erliegen musste. In dieser Zeit besuchte Dennis eine Realschule, versuchte sich tapfer am Abitur und musste aus Gründen scheitern, die noch zu erläutern sein werden. Gescheitert aber nicht, weil er bei seinen Leisten blieb und eine Ausbildung zum Gestaltungstechniker, Fachrichtung Grafik, absolvierte. Weil er sein Interesse an Farben und Formen zum Metier machte und weil dieses Interesse nicht von ungefähr kam. Sondern von Hip Hop, Street Art und Graffiti.

Heute knapp 20 Jahre später sitzt Dennis hinter seinem Schreibtisch im Prenzlauer Berg. Man braucht ihn nur antippen, schon redet er. Über Graffiti und Image. Die Kulisse, die gern in finsteren Filmen verwendet wird, wenn es um Mord, Dreck und Abgründe geht. Ohne Punkt und Komma sprudelt es aus ihm heraus. Was ihn sympathisch macht und dem Laien ermöglicht, einen Blick in eine Szene zu werfen, die eigentlich keine sein will, weil es DIE Szene oder DAS Graffiti gar nicht gibt. „Legal oder illegal. Züge oder Wände. Schablonen oder Tags“, erläutert Dennis die vielen Facetten. Ferner Auftragskünstler mit hohem Anspruch an Design und Ästhetik oder jene, die einfach nur große Buchstaben malen. Der Laie ist verwirrt. Warum bemalt jemand Häuserwände und S-Bahn-Züge? Nachts um drei wenn andere friedlich an Morpheus‘ Schulter kuscheln?

Es ist eine Frage von Beachtung und Anerkennung, die wohl jeder sucht, ganz besonders Jugendliche. Die wiederum einen Mangel daran mit Anderssein verbinden und dieses Gefühl nicht nur kompensieren, sondern auch kultivieren. Durch Zusammenschluss mit Gleichgesinnten. Allesamt geächtet, weil fremdes Eigentum beschmierend.

Soweit Sozialrhetorik, die nur eine Wahrheit ist. Eine andere Erklärung lautet: Illegales Graffiti bedeutet Organisation, Logistik, Schnelligkeit, Schlafmangel, Druck, Adrenalin und Euphorie. Oder mit Dennis‘ Worten: „Viele verzichten auf sehr viel, um Farbe auf den Zug zu bekommen.“ Denn was ist dagegen der Einser im Diktat? Nix. Sowieso bedeute Aufmerksamkeit nicht nur, dass die Crew Erfolge feiert, sondern auch, dass sich der Kiez über die Schmiererei echauffiert. Was freilich zum Problem wird. Weil es anfangs noch an Qualität mangelt, sprayen Jugendliche viel und schnell. Bombing. Ein Katalysator für das Negativ-Image oder anders: „Die Öffentlichkeit würde gut gemachtes, selbst illegales Graffiti ok finden“, so Dennis. Eine Einschätzung, die Eltern und Großeltern selbst bürgerlicher Schichten durchaus teilen.

Was heißt das aber? Zunächst einmal, dass man nicht verallgemeinern sollte. „Man kann nicht über Graffiti reden, wenn man nicht selbst auf der Bühne gestanden hat. Wie ein Musiker.“ Dennis stand mit 14 auf der illegalen Bühne. Er ging sprayen, seine Mutter nannte es spritzen, obwohl er auch Fußball spielte. Ein ganz normaler Junge. Dem Anschein nach. Gleichwohl zogen ihn Druck, Adrenalin und Stolz in den Strudel einer Clique, wo all die emotionalen Höhen und Tiefen eines Jugendlichen bedient wurden. Probleme mit Staatsgewalt und Familie blieben nicht aus. Trotz Respekt vor Verantwortung und Strafe. Weil das Abitur dann aber doch dem Malen und Zeichnen, dem vielen Üben und Organisieren und schließlich den nächtlichen Ausflügen zum Opfer fiel.

Es ging so lange bis es reichte. Bis die eigenen Grenzen erkannt und ausgereizt waren. „Der Kitzel war unbeschreiblich“, sinniert er seufzend und wünscht den Moment zurück. Noch einmal etwas sprayen, das verboten ist. Nur ist Dennis jetzt ein erwachsener Mann und steht mit beiden Beinen im Geschäft. Auf dem Weg dahin gelang ihm etwas, das nicht vielen gegeben ist. Leidenschaft zur Berufung machen.

Damit zurück ins Jahr 1998 als Dennis zunächst seine fotografische Ader entdeckte und begann, Graffiti zu dokumentieren. Anfangs mit analogen Kameras, später digital. Ein Archiv sollte entstehen. Ein Stück Szene-Geschichte. Das Internet kam gerade richtig: graffitibox.de erblickte das Licht des World Wide Web. Szeneforum und Internetgalerie zugleich. Nicht die erste Seite ihrer Art, doch immerhin die erste, die mit viel Content und wöchentlichen Best ofs einen stetig wachsenden Besucherstrom anlockte. Bis zu 300.000 im Monat. Dennoch ein brotloses Unterfangen. Ein Hobby, kein Job. Zeit- und kostenintensiv, weil der Webmaster höchstpersönlich stundenlang auf Bahnhöfen saß, um DEN Zug abzupassen. Für DAS perfekte Foto. Anerkennung in der Szene? Durchaus, aber eben nicht in der Gesellschaft. „Mach endlich was aus deinem Leben“, nörgelt die Familie zunehmend lauter.

Und Dennis machte. Party. Seit Gründung der Graffitibox waren fünf Jahre ins Land gegangen. Das galt es zu feiern. Jan Wagner, User genannt, kam hinzu und aus der Party wurde eine echte Hip Hop Jam, die Graffitibox Summer Jam 2006. Im Prinzip keine neue Sache, denn bereits in den 90ern, als das Internet weitgehend unbekannt war, hatte man sich auf diese Weise in der Szene getroffen, um Kunst auszutauschen. Doch im neuen Jahrtausend waren Jams dann aber schon wieder weitestgehend ausgestorben. Erst recht in der Berliner Szene, deren Gewaltbereitschaft dem Gedanken von Austausch und Zusammenfinden entgegen stand. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. An die tausend Leute kamen ins YAAM am Ostbahnhof. Um zu sprayen, zu tanzen, zu chillen und Musik zu hören. Ein Riesenerfolg, der ohne Geld, ohne Budget, mit Blauäugigkeit und Leidenschaft zustande kam. Mit Handarbeit, gegenseitiger Hilfe und Musikern, die ohne Gage auftraten. „Berlin hat nach einer solchen Veranstaltung gelechzt“, erzählt Dennis und vom „Begeisterungsflash“, der süchtig nach mehr machte.

Heute, sechs Jahre später, ist die Graffitibox Summer Jam noch immer das Familienfest von damals. Dem YAAM treu geblieben. Nur sehr viel größer. Eine der größten Veranstaltungen ihrer Art. Mit wachsenden Ansprüchen und Erwartungen. Entsprechend wird aufgefahren. 50 Life Acts auf zwei Bühnen. Darunter Silla, Harris, MoTrip, Nate57, Liquit Walker, Hammer & Zirkel, DVO. Mit Graffiti und Skizzen Battle. Break Dance, Rap Contest und Beatbox Battle. Sprayern, die Innen- und Außenwände verschönern. Fotografen, wie Rolf G. Wackenberg, der das Event seit Jahren dokumentiert. Mit Aftershowparty ab 1 Uhr nachts.

Doch vieles ist anders geworden. Hinzu kamen Wachstumsschmerzen und Erwartungen. Nach mehr Sicherheit, neuen Musikern, mehr Bühnentechnik. Insofern wird Leidenschaft zunehmend von Kampf begleitet. Um Qualität und Kostendeckung. Um ein Plusminus Null am Ende des Tages. Zeit und Kraft, die das Kernteam, bestehend aus Jan, Pierre, Jens und Mareen, neben dem eigenen beruflichen Engagement aufbringen muss. Wie auch Mastermind Dennis, der „was aus seinem Leben gemacht hat“ und seit 2008 den Graffitibox Onlinehandel nebst gut sortiertem Street Shop im Prenzlauer Berg führt.

„Einige Künstler rufen unvorstellbare Summen auf, die wir leider nicht zahlen können“, klagt er, denn die Veranstaltung muss fast ausschließlich aus Eintrittsgeldern finanziert werden. Der Sponsorenanteil sei lachhaft und das Catering liege beim YAAM. Gut, dass es die vielen Helferlein gibt, die gegen freien Eintritt bei Promo, Auf- und Abbau helfen. Schön wäre zudem, wenn einer der Sidos, Bushidos oder K.I.Z.s dieser Welt Credibility in Form eines Fünf-Minuten-Gratis-Gigs zeigen würde. Schließlich ginge es um Image und darum, junge Menschen für die Szene zu begeistern. Ein Stück weit Herausforderung bei Ticketpreisen von 24 EUR. Selbst wenn die Leistung stimmt. Denn wo bekommt man für dieses Geld schon 16 Stunden Rundumbespaßung.

Quo vadis Graffitibox Summer Jam? Oder konkret: Wie positioniert man ein Event, das mittlerweile mehr als 5.000 Besucher zieht. Wie schafft man den Spagat zwischen Kunst und Kommerz in einer Szene, in der Rentabilität und Wirtschaftlichkeit wenig mit Authentizität und Glaubwürdigkeit zu tun haben. „Dass Musiker Gagen bekommen, versteht jeder. Dass das Team entlohnt wird, nicht unbedingt“, stellt Dennis fest, der noch immer mit Spaß und Leidenschaft bei der Sache ist. Der aber auch weiß, dass man von Spaß allein nicht leben kann. Nicht, wenn sich das finanzielle Ergebnis dunkel-rosa färbt. Und aus Spaß Stress wird.

Einmal mehr wird sich die Graffitibox Summer Jam neu erfinden müssen. Wie, bleibt vorerst offen. Vielleicht mit anderem Konzept. An einem anderen Ort. Deswegen findet am 04. August 2012 die vorerst letzte Jam ihrer Art statt. Auch wenn Dennis bereits in die Zukunft träumt. Von Tempelhof. Von einem Ort für neue Ideen. Um Kultur zu fördern und Jugendliche zu begeistern. Für weitere zehn Jahre. Denn Graffiti ist Kunst. Und für Kunst ist man nie zu alt.

Über Sarah Paulus

Ich bin freie Autorin mit Fokus auf Reportagen und aktuelle Themen rund um Reise, Politik, Menschen und Kultur. Meine Artikel und Reportagen wurden u.a. in der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, der Morgenpost, dem Tagesspiegel, der Welt/Welt am Sonntag, bei Spiegel Online sowie in diversen Magazinen veröffentlicht. Sarah Paulus
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