Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat das Wort im Vaterland? Die Annäherung an diese sehr liechtensteinische Frage beginnt mit der geografischen Ortung des Fürstentums. Irgendwo bei Luxemburg, tippen einige. Mittelmeer oder Pyrenäen, rätseln andere. Nicht zu verwechseln mit Monaco oder Andorra. Allesamt zu den Europäischen Zwergstaaten gehörend, in guter Gesellschaft mit Malta, San Marino und Vatikanstadt.
Das Fürstentum, eine konstitutionelle Erbmonarchie auf demokratischer und parlamentarischer Grundlage, steht heute unter der Regentschaft Hans-Adam II. von und zu Liechtenstein. Es liegt am Ostufer des Rheins, umgeben von der Schweiz. Beide Länder verbindet praktischerweise eine Zoll- und Währungsunion sowie ein ähnlich anspruchsvolles Preisniveau. Für Schnitzel mit Pommes im einfachen Landgasthof sind beispielsweise 29 Franken zu berappen. Kein Wunder, denn das Liechtensteiner Bruttoinlandsprodukt beträgt rund 144.100 USD pro Einwohner. Mehr als das Doppelte verglichen mit der Schweizer Schaffenskraft. Ganz zu schweigen von Deutscher Tüchtigkeit obschon deutscher Fleiß durchaus willkommen ist. Gemeinsam mit Österreichern, Italienern und Schweizern bilden Deutsche einen Ausländeranteil von 33%.
Tatsächlich ist es kein großer Ritt ins Fürstenland hinter den sieben Bergen. Selbst für Norddeutsche ist der Weg recht einfach zu finden. Immer bleifüßig gen Süden, vorbei an Lindau am Bodensee und hinein ins Schweizerische, um auf eidgenössischen Rennbahnen bei 120 km/h tiefenentspannt auszuatmen. Doch nur kurz, denn gleich hinter einer alten, hölzernen Rheinbrücke, die das Fürstentum mit dem Schweizer Kanton St. Gallen verbindet, ist der Reisende schon mittendrin im Zwergenland. 24km lang ist es und 12km breit. Seine Fläche entspricht in etwa der Stadt Bonn. Kaum hat man also eine der elf Gemeinden ins Navi getippt, ist man auch schon da. Oder landet am Ufer des Rheins, der die Westgrenze bildet. Auf etwa 30m Breite mit vereinzelten Kiesinseln strömt er eilig dahin, milchig wie ein Gebirgsbach. Bewacht von den umliegenden schneebedeckten Hängen, zwischen denen die liebe Sonne ambitioniert hervorstrahlt.
Von der sich auch eine Gruppe Asiaten wärmen lässt. Rotgesichtig bevölkern und beknipsen sie Vaduz, von den Liechtensteinern liebevoll Hauptort genannt, nur wenige Fahrminuten von der alten Rheinbrücke entfernt. Japaner eben, denkt man stereotyp. Obgleich die Sonnenschirme und sonstige schräge Outfits fehlen.
„Die Chinesen kommen“, erzählt die blonde Dame im Liechtenstein Center und ergänzt: „Nur noch wenige Deutsche, überwiegend Pensionäre in großen Bussen.“ Diese erste Anlaufstelle für Touristen liegt direkt an der Promenade, die sich zwischen dem Vaduzer Hof und der neugotischen Kathedrale St. Florin erstreckt, einer wesentlichen Schnittstelle zur Geschichte des Landes.
Diese begann 1342 mit der Entstehung der Grafschaft Vaduz, deren Erwerb durch Fürst Johann Adam Andreas von Liechtenstein im Jahr 1712 und der Erhebung zum Reichsfürstentum Liechtenstein sieben Jahre später. 1806 erlangte es Souveränität durch Aufnahme in den Rheinbund. Mit der Einweihung der Pfarrkirche St. Florin im Oktober 1873 wurde Vaduz zur eigenständigen Pfarrei. Nach der Loslösung vom Bistum Chur erfolgte im Dezember 1897 die Gründung des Erzbistums Vaduz. St. Florin durfte sich von nun an Kathedrale nennen. Heute wird hier gerade geheiratet. Auch das knipsen die japanesken Chinesen.
Im Fürstentum Liechtenstein leben 35.894 Einwohner. Zu ihnen darf sich die freundliche Dame der Touristeninformation zählen, ihre Herkunft mit stolzer Stimme hervorhebend. „Als Liechtensteinerin fühle ich mich natürlich, nicht als Schweizerin“, erklärt sie und verweist auf die Insignien der Staatlichkeit wenige Schritte entfernt. Dort, wieder an der Promenade gelegen, befindet sich das neubarocke Regierungsgebäude gleich neben dem Neubau des Landtages. Wirkungsbereich für 25 gewählte Abgeordnete, deren Arbeitsplatz mitnichten wie eine strenge Legislative daher kommt, sondern eher luftig. Mit einem Hauch Sakaralem und beinahe ägyptischer Note.
Auf dem Vorplatz lümmeln Skulpturen von Keld Moseholm und Valesco Vitali die Voreieilenden an. Sie sind Teil des Projektes Bad Ragartz, das Kunst auf die Straße bringen will. Ohne Türen, ohne Eintritt. Für alle, die bereit sind, „der Kunst auf Schritt und Tritt begegnen zu wollen“. Auch für weitgereiste Chinesen, die völlig aus dem Häuschen sind und erneut knipsen was die Speicherkarten hergeben.
Weiter entlang der Promenade werden in einem Souvenierladen „Stamps with your own photo“ für 18 Franken angeboten. „Eine wirklich schöne Erinnerung“, finden Linh und Tian aus Peking. Gerade auf Hochzeitsreise. Er ist gesprächig, sie schweigsam und müde von all den touristischen Anstrengungen. Nach zehn Tagen durch halb Europa: Paris, Orléans, Lyon, Milano, Genf, Lausanne, Liechtenstein. Morgen Zürich, anschlagen und zurück. Die Skulpturen von Vaduz haben es ihnen angetan. „The fat lady around the corner“, Fernando Boteros „Ruhende Frau“, die Werke von Nag Arnoldi und der „Phönix“ von Doris Bühler. Die Promenade von Vaduz ist zu einer imposanten Begegnungsstätte mit moderner Kunst umfunktioniert, die der Flaniermeile metropolen Charme verleiht. Die Liechtensteiner beweisen allemal ein feines Händchen, wenn es darum geht, Kunst und Alltägliches zu verbinden.
All das kann man bei einem sündhaft teuren Eisgelage im Ristorante Cesare schräg gegenüber vom Rathaus reflektieren. Der seichte Fön weht durch die Kastanienbäume. Nebenan im Restaurant Engel herrscht vorabendliche Leere an Blümchentischdecken. Auch der letzte Chinese scheint sein Tagespensum verknipst zu haben, denn plötzlich sind sie alle wie vom Erdboden verschluckt. Und wie seit Jahrhunderten, thront über der unerwarteten Ruhe das imposante Herrscherschloss. Umgeben von schneebedeckten Ausläufern der Alpen.
„Ein Viertel Liechtensteins ist Tal, der Rest Gebirge“, informiert Paul. Um die 50, dunkelhaarig und sportlich steckt er in Anglerweste, schwarzen Socken und Sandalen. Gebürtiger Liechtensteiner. Der Vater wuchs im liechtensteinischen Mauren auf, die Mutter im Nachbarort Eschen. Besuch aus Deutschland sei angekommen. Also Sightseeing. Auf die Frage, was es denn nun mit dem Finanzplatz Liechtenstein auf sich habe, antwortet er freimütig: „Liechtenstein ist ein stabiles Land. 50% Parlament und 50% Fürstentum“. Drei Parteien gäbe es, zwei konservative und eine grün-sozialistische. „Da wird man reingeboren, da bleibt man“. Zustände wie in Griechenland oder Frankreich, wo Mehrheiten eben mal von hier nach da wechseln? Undenkbar! Schließlich empfiehlt er eine Tour in die Berge.
Dorthin führen Serpentinen, vorbei am Schloss Vaduz, das seit 1938 ständige Residenz der Fürstenfamilie und für Ungeladene nicht zu besichtigen ist. Auf eine rigide Abschottung scheint die Herrschaft aber keinen Wert zu legen. Weiträumige Absperrungen, Kameras oder martialische Verbotsschilder? Fehlanzeige. Stattdessen lädt ganz in der Nähe ein Parkplatz mit Bänken und fröhlich plätscherndem Brunnen zum Verweilen ein. Wer mag, stromert durch den Laubwald, wo es nach Knoblauchgras duftet oder über ungemähte Wiesen, wo gelber Hahnenfuß und violetter Klee zwischen krüppligen Obstbäumen um die Wette blühen. Natürlich wirft man ab und zu einen Blick auf die Gemäuer der Fürstenresidenz, die 1322 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Der Turm soll sogar aus dem 12. Jahrhundert stammen.
Hier also wohnen derer von Liechtenstein. Auch Erbprinz Alois, derzeit im 44. Lebensjahr, der am 15. August 2004 von seinem Vater als Stellvertreter eingesetzt und mit der Ausübung aller ihm gemäß Verfassung zustehenden Hoheitsrechte betraut wurde. Nebst Gemahlin, Herzogin Sophie von Bayern mit drei Buben und einer Tochter. Von einem der benachbarten Grundstücke, das gerade eine Baustelle ist, kann der Neugierige ein Stück Privatleben erspähen. Ein Fußballfeld ist zu sehen, mit Trampolin. Daneben ein parkähnliches Areal mit Pool und Bänken nebst kleinen Türmchen. Ansonsten ist leider kein Blaublut zu entdecken. Wahrscheinlich spielen sie gerade in den 130 Residenzräumen Verstecken.
Der Reisende hingegen erklimmt weitere Serpentinen. Bis er auf 1.600m Höhe den Flecken Malbun erreicht, der sich gerade vom Trubel der Wintersaison erholt. Gastronomien sind leer gefegt. Schneezungen schmelzen von den Hängen. Weiter hinauf, zum Nenziger Himmel oder zur Pfälzerhütte zieht es einen. Doch der Ausflug fällt flach, auch Seilbahnen machen mal Pause. Schusters Rappen böten sich an, doch die Höhenlust weicht einem zünftigen Picknick, mit Schweizer Brot und Schwarzwälder Schinken vor einem der leeren hölzernen Chalets, noch vor wenigen Wochen von pummlig bekleideten Skifahrern bevölkert.
Auch so kann man Zeit verbringen und erst danach dem Aktivitätsdrang Tribut zollen. Im Ort Steg, 300m tiefer, wo sie einen Stausee haben. Und die Valüner, an der man entlang wandern kann. Vorbei an knarzigen Wäldern, dahinter 2.000er rechts und links, von denen eiskaltes Bergwasser rinnt. Überall uriges Pflanzenleben. Schlüsselblumen, Sumpfdotterblumen und Berg-Hahnenfuß rangeln um den Niedlichkeitspreis. Mittedrin ein rot-grün gestreifter Käfer, der sich selbst begegnet.
Am Ziel ein frisches Krona. Im Bergstübl. „Do wachst üsers Bira“, antwortet ein Anrainer auf die Frage, ob die Gerste tatsächlich auf Liechtensteiner Boden wächst. Ergänzend erfährt der Besucher auf der Internetseite der Brauerei: „Di nögscht Liachtastaner Bänd isch am Brauhuus cluB beiträtta. Willkomma Rääs!“ Rääs, die Band, die kürzlich bei „Rock around Malbun“ spielte. Auf Liachtaschtänerisch. Ein alemanischer Dialekt, den sie hier sprechen, singen und wohl auch schreiben, der dem ungeübten Ohr wie ein mittelalterlicher Singsang vorkommt, bestenfalls wie eine Fremdsprache.
Der Anrainer zeigt Erbarmen mit der Linguasthenie seiner Gäste und fährt auf Hochdeutsch fort: „Gott, Fürst, Vaterland. Die Losung der Monarchie“. Dessen Einfluss sucht der 67 jährige Fürst Hans-Adam II, Staatsoberhaupt und 13. regierender Fürst von Liechtenstein zu bewahren. Letztlich geht es um die Frage, wie viel Demokratie ein Volk braucht und wer das letzte Wort hat. Ein Volk mit dem Recht des Referendums und ein Fürst, der als volksnah gilt. Den jeder durchaus auf der Vaduzer Promenade beim Pizzaessen treffen kann. Der letztlich die Gesetze des Landes sanktioniert. „Dagegen regt sich Widerstand. Im September soll es eine Volksabstimmung geben“, fährt er fort. Und dass gerade diejenigen dagegen seien, die nach außen gern mit ihrem Fürstentum prahlen und sich das ganze Jahr auf ihr Fürstenfest freuen.
Den Staatsfeiertag, der alljährlich am 15. August begangen wird. Mit Höhenfeuerwerk und viel Monarchie zum Anfassen. Mit Rock, Bier und Vaterland. Und wahrscheinlich vielen Chinesen. Modern eben. Geradezu international.