Getränke, Essen, Toilette. Haben wir alles erledigt? Dann schnell zum Bus und erst einmal durchatmen. Was für eine Hektik. In Afrika. In Tansania. Genau genommen in Kahama, einem kleinen Ort inmitten eines großen Nichts, wenngleich durch dieses Nichts immerhin eine der wesentlichen Verkehrsverbindungen des Landes verläuft, die die Hauptstadt mit den Orten im Norden, Kigoma am Tanganjikasee und Bukoba am Victoriasee verbindet. Lediglich todesmutige Busreisende verirren sich zwangsläufig hierher. So auch wir. Auf der Reise von Kigoma nach Morogoro, einer Kleinstadt am Fuße des Ulugurugebirges, etwa 200 km westlich von Dar.
Man hätte auch den Zug nehmen können. Mitreisende berichteten allerdings von abenteuerlichen Erlebnissen anderer. Einer sei hinter Kigoma liegen geblieben. Zwei Tage lang. Inmitten eines noch größeren Nichts, auf einer Strecke von 350 km ohne erkennbare Straßen geschweige denn motorisiertem Verkehr. Also der Bus. Der fährt auf Straßen, so auch andere Fahrzeuge. Im Zweifel kann man trampen…
Nun also Mittagspause in Kahama. Es ist 15 Uhr. Der Bus hält im Gewusel einer geschäftigen Dorfstraße. Fleischspieße und Kartoffelchips brutzeln an einem Grillstand. Eine Art Garküche gleich nebenan. Die Reisenden drängen aus dem Gefährt, um sich vor der Toilette im Hinterhof aufzureihen. Das kann dauern, denkt man. Doch weit gefehlt. Hier wird im Akkord gepinkelt wie anderswo gearbeitet. Überhaupt bedeutet Pause in einem Sumri-Bus nicht etwa gemächliches Herumschlendern, die Beine vertreten und entspanntes Rauchen, sondern hektisches Erledigen der lebensnotwenigen Verrichtungen. Damit ist der Afrikaner vertraut, der Europäer weitestgehend überfordert. Und so absolviert eine neben uns sitzende junge Frau mit Baby-Boy auf dem Rücken die anstehenden Aufgaben wesentlich effizienter und akquiriert im Alleingang neben Getränken und Fleischspießen zudem eine Portion Chips. Der simple Trick: Weniger trinken, weniger müssen. Uns Europäern, die wir meinen, sogar inmitten einer Großstadt zu verdursten, ist Pragmatismus dieser Art schlichtweg abhanden gekommen.
Seit neun Stunden nun in diesem Sumri-Bus. Sollten wir tatsächlich ankommen, werden mehr als tausend Kilometer hinter uns liegen. Sumri, mit nicht zu übersehendem indischen Look and Feel, gilt in Tansania als eines der verlässlichen Busunternehmen. Die Gesellschaft operiert landesweit und wird von Einheimischen als auch Reiseführern empfohlen. Sumri Busse sind außen knallebunt. Und innen konsequent volumen-optimiert. Entsprechend verbleibt von der hinteren Bustür nicht mehr als eine Attrappe. Den ehemaligen Zustiegsbereich füllt eine zusätzliche Sitzreihe. Mit Ausnahme der zwischen Dar und Arusha verkehrenden „Luxury“ Busse der Gesellschaft Dar Express, die mit Klimaanlage und Bord-WC ausgestattet sein sollen, gibt es in allen anderen tansanischen Bussen keinerlei Schnickschnack. Form follows Function lautet die Devise. Das bedeutet: Konsequente Entkernung und Fokussierung des Gefährts auf sein Kerngeschäft. Fahren und Transportieren. Entsprechend stehen pro Reihe fünf statt normalerweise vier Sitzplätze zur Verfügung. Rechts in der Regel drei, dann der Mittelgang, links zwei Plätze. Nicht, dass der Afrikaner an sich schlanker wäre. Mitnichten der Europäer. Schon gar nicht sind afrikanische Busse breiter als europäische. Indische Fabrikate erst recht nicht.
In ein Spiegelbild afrikanischen Alltags blickt man auf Busbahnhöfen. Chaotisch in Mbeya. Geschäftig in Morogoro. Hier bekommt man sogar eine Quittung fürs Pinkeln. Also, fürs Bezahlen. Sumbawanga besticht durch wohl sortierte und beschriftete Haltereihen. Drum herum jede Menge kleiner Shops mit Getränken und einfachen Snacks. Auch Toiletten. Sowie einige Verschläge, die mit bunten Lettern wie Holland Guest House, Babuu oder auch Zuhura Hotel ihre Bestimmung verraten. Der Sandplatz in Kigoma hingegen tut das nicht unbedingt, zumindest nicht an einem stockdunklen Morgen gegen 5.30 Uhr. Einige Gestalten lungern in der Finsternis herum, so auch wir. Immer wenn ein entkernter Koloss schwerfällig durch die Schlaglöcher schwankt, laufen alle los. Ist es der Richtige? Gegen 5.45 puffern fünf Busse im Leerlauf, kreuz und quer geparkt auf dem sandigen Terrain. Grelles Scheinwerferlicht durchbricht den Morgennebel. Wir haben Sitzplatz Nr I1 und I2. In Tansania ist es üblich, zumindest an den Startpunkten der großen Überlandlinien, Tickets am Vortag zu kaufen. Mit Sitzplatzreservierung selbstverständlich. Und wer denkt, das klappt nie. Der irrt. Ganz wichtig übrigens auch die in Tansania übliche „Reporting Time, so was wie Bording Time, in der Regel 30 Minuten vor Abfahrt. Auch daran hält sich der Einheimische. Stets überpünktlich wartet er geduldig auf das, was da kommen möge. Warten. Ohnehin eine der am häufigsten zu beobachtenden Tätigkeiten in Afrika.
Kurz nach 6 Uhr setzen sich die stählernen Karossen in Bewegung. Beinahe pünktlich, nacheinander, geordnet. So auch Sumri.
Gemächlich schaukelt er über die wenigen verbleibenden Kilometer Teerstraße, um schließlich mit Schmackes über die nun beginnende rote Sandpiste zu brettern. Ziemlich beherzt für eine Allradstrecke, die in anderen Teilen dieser Welt niemals einen Reisebus zu Gesicht bekäme. Wenigstens kann man die kleinen indischen Fensterchen öffnen. Morgennebel wabert über Wiesen und Felder vor geschmeidigem Hügelland. Lehmhütten stehen am Wegesrand. Menschen laufen von hier nach da. Kühle, feuchte Luft umweht die Passagiere, die auf den hinteren Dreiersitzen ihre Körperteile in einem möglichst effizienten Patchwork arrangieren. Baby-Boy auf Mutters Arm nebenan schläft friedlich, während Sumri durch sattgrünes Land pflügt, dem Sonnenaufgang entgegen. Dass bei einem solchen Ritt nicht alle Schlaglöcher umfahren werden können, merken wir Passagiere der hinteren Reihen spätestens dann, wenn wir plötzlich empor fliegen, um Sekunden später auf die spartanisch gepolsterte Sitzgelegenheit zurück zu plumpsen. Arme Wirbelsäule, denkt der ergonomisch geprägte Westeuropäer, während Baby-Boy weiter friedlich schlummert.
Erster Halt gegen 8.30 in Kasulo. Geschwind eilen Händler herbei und verkaufen Bananen, Getränke, hart gekochte Eier und sonstige Snacks direkt durch die winzigen indischen Fensterlein. Weitere Zusteigende besetzen die letzten freien Plätze. Wer zu spät kommt, muss sich im Gang einrichten, so auch eine korpulente Frau mit zwei kleinen Jungs, die noch an Mutters Brust nuckeln, obgleich sie schon recht stramm in die Welt gucken. Pinkelpause gegen 10 Uhr. Wer muss, kämpft sich zum Ausgang. Frauen links, Männer rechts. Toilette? Fehlanzeige. Wenige Meter entfernt, einige Lehmhütten. Noch schnell ne Ziese puffern? Nix da. Wir müssen weiter. Wir haben keine Zeit. Am nächsten Morgen sollen wir in Morogoro sein, hat man uns beim Ticketkauf gesagt. Zwischenübernachtung in Dodoma. Und wo da? Achselzucken. Wird schon. Irgendwie.
Gegen 12 Uhr erreichen wir nach 270km Sandpiste im Ort Nyakanazi die geteerte Hauptstraße. Kurze Zeit später hektisches Pausieren in Kahama, wo diese Geschichte ihren Anfang nahm. Die Landschaft wird nun eintönig, trocken, spröde, struppig. Satt und gelangweilt fällt die Passagierschaft in träges Nachmittagsdösen. Die vielen Kinder an Bord eingeschlossen. Selbst nach mehr als neun Stunden Fahrt kein Geschrei, kein Gezeter. Auch Baby-Boy kuschelt bräsig in Mutters Arm, trinkt, schläft, kackt oder bestaunt aus großen Kulleraugen den weißgesichtigen Fremden. Stundenlang.
Mächtiges Poltern, so als sei ein Stück Fels gegen den Unterboden geschlagen, stört plötzlich die klebrige Nachmittagsstimmung. Das war schon laut. Einige Fahrgäste, aber wirklich nur einige, finden das auch und schauen wachen Auges umher, während Sumri tiefenentspannt weiter rollt, um nach einigen hundert Metern zu halten. Eher aus Verlegenheit oder weil es sich so gehört. Ok, schauen wir halt mal nach. Gespanntes Warten. Nichts passiert. Weiter geht’s und die Passagiere sinken zurück in den tansanischen Overland-Blues. Aber nicht lange. Wieder Getöse unterm Fahrgestellt. Ruhe. Dann erneut. Ein besorgter Fahrgast (Betonung: ein einziger) erhebt sich und meldet Bedenken an. Ruhig. Setz dich wieder hin, wird ihm bedeutet. Nach einigen Kilometern rumpliger Fahrt, dann doch ein erneuter Halt. Die Mannschaft drängelt aus dem Bus. Herrgott, endlich mal wieder Pause. Einer der hinteren Reifen ist völlig zerfleddert. So eine Reifenpanne hat auch was Gutes. Beine vertreten, pinkeln, rauchen. Aber nicht lange. Es geht weiter und der Zerfledderte hängt immer noch auf der Achse. Kann man so fahren? Wird schon. Irgendwie.
Kurze Zeit später ein weiterer Stopp. Auf der gegenüber liegenden Fahrbahn hält ein Sumri-Kollege. Aha, Übergabe des Ersatzreifens, der übrigens so aussieht als sei er schon seit Kaiser’s Zeiten unterwegs gewesen. Glatt wie Baby-Boys Popo. Man will es ja eigentlich gar nicht so genau wissen, wirft dann aber doch einen Blick auf die anderen Reifen und stellt zufrieden fest: Die haben ordentliches Profil. Na dann. Düsen wir weiter. Frisch bereift in die Nacht. Es ist 19 Uhr. Um uns herum toben furchterregende Gewitter.
Gegen 0 Uhr erreichen wir Dodoma. Nachtruhe? Keineswegs. Wir pflügen weiter durch die Dunkelheit. Der ganze Bus schläft in eiserner Disziplin. Mutter und Baby-Boy ruhen friedlich an der Schulter des großen Weißgesichtigen. Ab und an ein leises Quengeln, wenn lästiges Gebräu die kleinen Gedärme plagt und mit Schmackes in die Windel katapultiert wird. Ein wenig Sabber rinnt auf die starke Schulter. So ist das. Menschliches Leben Seit an Seit. Und wie geht es dem Busfahrer? Ist er jemals ausgewechselt worden?
Halt gegen 1.30 in einem Straßendorf. Der Busfahrer verschwindet, das Gefährt tuckert im Leerlauf vor sich hin. Vor einem maroden Verschlag wird heftig gegrillt. Spieße und Chips. Afrikanischer Diskopopp scheppert aus der Konserve. Räudige Köter, hinkend und geprägt vom Leben an der Hauptverkehrsstraße, streunen unterwürfig umher. Menschliche Gestalten, betrunken und abgewetzt, stehen ihnen in nichts nach. Pellwurstige Nutten in dropsigen Leggins stolpern aufreizend plärrend durch die Dunkelheit, die nur unwesentlich vom todmüden Schein der Grillbeleuchtung erhellt wird. Ein Dieselgenerator summt versonnen, als sei es hier niemals anders gewesen…
Ein Bewohner führt die Busladung zum Pinkeln hinters Haus. Von wegen Haus. Sagen wir eher Bretterverschlag oder Lehmhütte, was in der Dunkelheit nicht so genau zu erkennen ist. Gepinkelt oder was auch immer wird mitten auf den Hof. Frauen links. Männer rechts? Nach fast 20 Stunden Fahrt ist das egal. Erst recht hier.
Wenn in Afrika nichts funktioniert, dann doch eins. Es gibt Bier. Verständigungsversuche scheitern allerdings. Wir sind die einzigen Wazungu. Lediglich einer scheint unsere Fragen zu verstehen: „Wo sind wir und vor allem was machen wir hier?“
„Kibaigwe“, erklärt er, zeigt mit dem Finger auf die Landkarte und ergänzt: „Time to sleep.“
Wow. Was für ein Tag. Was für eine Nacht. Welch ein Ort. Und der Bus knattert noch immer vor sich hin. Spritpreise scheinen hier kein Thema zu sein. Darauf ein zweites Bier.
Aber wir sind angekommen. Irgendwann, Stunden später gegen 7.30 in Morogoro, nachdem der Busfahrer mit einer winzigen Mütze Schlaf das Cockpit bestieg und die verregneten Höhen der Uluguru Berge durchquerte. Während dieser undurchsichtigen Fahrt mit donnerndem Schwerlastverkehr auf der Gegenfahrbahn wird Baby-Boy auf Mutters Schoß gewickelt. Afrika kennt viele Gerüche. Nach 25 Stunden Busfahrt ist auch der härteste Mzungu dankbar für ein winziges indisches Fensterlein. Und er ist dankbar für dieses Ankommen. Dankbar, sein Gepäck wieder zu finden, selbst wenn es verdreckt ist und bedeckt mit einer dicken rostroten Staubschicht, so wie er selbst. Dankbar auch für ein sauberes Zimmer im Hillux Hotel Morogoro, trotz der berechtigten Fragezeichen im Gesicht des Rezeptionisten.