In einem gemieteten Citroen C4, der auf einer fast leeren Straße vor dem Hotel Nakhel steht, sitzen zwei Personen. Er trinkt Orangenbrause, sie pafft eine Pall Mall und bläst Qualmwolken aus dem geöffneten Fenster. Es ist dunkel, obgleich erst 21 Uhr. „Mach lieber das Fenster zu“, sagt er.
Gestatten Sarah Paulus. Falls Sie meine Geschichten gelesen haben, kennen wir uns. Gemeinsam reisten wir durch Namibia, Madagaskar und durch Syrien. Jetzt befinden wir uns in Skoura, einen Katzensprung östlich von Ouarzazate, in einem Ort, der als lohnenswert für ein- bis zweitägige Ausflüge gilt. Empfehlenswert seien die Kasbahs sowie einige gut geführte Übernachtungsmöglichkeiten in den weitläufigen Palmenhainen.
Normalerweise verbringen wir unsere Abende nicht im verriegelten Mietwagen, schon gar nicht direkt vor dem Hotel. Normalerweise sitzen wir an solchen frühen Abenden in einer Kneipe, im Park oder auf der Straße. Normalerweise sind die Straßen voller Menschen, hier in Nordafrika.
Auf den ersten Blick erscheint Skoura wie jedes ganz normale marokkanische Dorf, also lebendig und bunt. Im Ortskern einige Marktstände, gegenüber die Moschee und der Busbahnhof und dazwischen das Hotel El Nakhel. Zwar entbehrt das Haus spätestens auf den zweiten Blick jeglicher Beschaulichkeit, so ist es doch zentral gelegen und für Leute, die lieber mittenmang sein wollen, statt sich in Urlaubsressorts touristischer Gediegenheit zu erfreuen, eine annehmbare Wahl.
Der Empfang fällt freundlich aus. Hausherr Mustafa, bekleidet mit weißem Kaftan, führt würdig durch sein Reich: Die Gastwirtschaft, danach eine Rumpelkammer, die Treppe hinauf, einen schmalen Gang entlang. Et voila, das Zimmer: Ein blumiges Bett mit Plastiktischlampe. Ein Fenster, vergittert, mit Blick in den Gang. Das Bad. Wir nicken ab. Budget ist Budget. Low Budget erst recht. Plötzlich muss Mustafa ganz schnell weg, rüber in die Moschee. Allein gelassen freunden wir uns im Überschwang des Ankommens mit der vergitterten Innenbordkabine an und erobern todesmutig das sanitäre Urgestein, welches man über eine ziemlich hohe Stufe erreicht. Im Badezimmer selbst kann man gleichzeitig duschen und auf der Toilette sitzen oder anders gesagt, man kann beides auf einmal erledigen, da die Toilette beim Duschen sowieso überschwemmt wird. Wie auch die orangefarbene Bastmatte, die offensichtlich mit einem stumpfen Messer zurechtgestutzt wurde. Ein Schöngeist war hier nicht am Werk. Nach erfolgter sanitärer Verrichtung ist eines wichtig: Denk an die Stufe. Alles andere hätte fatale Folgen.
Derweil ist Mustafa immer noch abhanden. Seine Frau steht am Tresen, die Kinder toben durch die Gastwirtschaft, einige wenige Gäste sitzen auf Plastikstühlen und gucken Al Dshasira. Niemand kann rein, niemand kommt raus. Der Schlossherr hat beim Fortgang alle Türen nebst Eisengitter verschlossen.
Später, bei Tee, lernen wir ein amerikanisches Pärchen kennen. Sie sind seit zwei Tagen hier und finden alles amazing, exciting, wonderful. Eine Straße weiter soll es eine Kneipe mit Alkoholausschank geben, vielleicht könne man sich am Abend treffen. Dann öffnet sich die Pforte. Mustafa kehrt zurück. Er wünscht uns einen schönen Aufenthalt, nicht ohne mahnende Worte. Der Ort beherberge einige zwielichtige Gestalten, die Touristen und anderen Arglosen irgendwelche Sachen aufschwatzen wollen. Als ob das etwas Neues in Marokko wäre.
Auf der Einkaufsstraße gegenüber der Moschee treffen wir auf ein erstes solches Exemplar. Artig sagen wir: „La shukran“, worauf der junge Mann „RAASSSSIIIIIIST“ über die Straße brüllt, was keineswegs dem berühmten marokkanischen Charme entspricht. Der Rest unserer Ortsbegehung fällt entsprechend kleinmütig aus. Immerhin finden wir in der Parallelstraße eine Kneipe, die so aussieht, als könnte hier Spirituelles verkauft werden. Ein Kneiper, der an Long John Silver erinnert, führt uns in sein Hinterzimmer und verspricht flüsternd, das Gewünschte zu organisieren, sofern wir ihm sagen wieviel und wann, so als hätten wir gerade Explosives für den nächsten Terroranschlag in Auftrag gegeben. Alkohol scheint hier eine prohibitive Angelegenheit zu sein. Entsprechend indifferent bleiben wir am Abend, beim Verspeisen von Mustafas Tagine Kefta, als er nach der weiteren Abendplanung fragt: „On fait une promenade“. Bon. Das Hotel wird verriegelt. Wir sind die letzten Gäste, vielleicht auch die einzigen. Es ist 20.30 Uhr.
Die Trostlosigkeit des Ortes, die, noch im Schein der Nachmittagssonne, von einer gewissen Ursprünglichkeit zeugte, wirkt nun, in der Dämmerung, beinahe greifbar. Händler schließen ihre Stände. Die Cafés sind leergefegt. Menschenmassen, die sich sonst auf den Straßen trollen, nirgends in Sicht. Kurzum: Eine Stimmung wie kurz vor der Ausgangssperre oder gar Schlimmerem.
Auf der Suche nach den amerikanischen Optimisten machen wir uns auf den Weg zu Long John Silver. Weder sind sie da, noch das bestellte Bier. Mitfühlend gedenken wir jedem anonymen Alkoholiker dieser Welt und kaufen auf dem Rückweg an einem stockdunklen Platz eine Orangenbrause. Ein räudiger Köter bellt herrisch hinterdrein. Bloß schnell zurück zum Hotel.
Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Warum verriegelt Mustafa sein Hotel? Warum ist keine Menschenseele auf den Straßen? Und vor allem – wer ist Mustafa wirklich?
„Mach doch endlich das Fenster zu“, drängt Rolf noch einmal. Der Besitzer der Fleischerei gegenüber schrubbt einsam seinen Laden und schüttet das Wischwasser auf die Straße. Kranke Köter humpeln um die Brühe und gieren zähnefletschend nach den Abfällen. Eine menschliche Kreatur torkelt über die Straße und gestikuliert unentwegt mit sich selbst oder wem auch immer. Eine Frau in Jogginghosen schlurft heran, um ein Gespräch in einer der Telefonzellen zu führen. 21 Uhr 45. Niemand weiter auf der Straße. Auch wir nicht. Wir sitzen im verriegelten Mietwagen, weil wir noch keine Lust auf die vergitterte Innenbordkabine haben.
Doch jede noch so große Orangenbrause ist irgendwann einmal ausgetrunken. Nach mehrmaligen Klopfen und Rütteln wird die eiserne Zugbrücke der Burg herunter gelassen, wir erlangen Zutritt zu unserem Unterschlupf.
Am nächsten Morgen stinkt es nach Kloake. Um keinen falschen Eindruck zu erwecken, Bad und Zimmer sind zwar oll, aber letztlich nicht dreckig. Es stinkt dennoch. Mörderisch. Der Geruch kommt definitiv aus dem Bad. Die Morgenwäsache fällt entsprechend magenunfreundlich aus. Beinahe vergesse ich die Stufe.
Unterdessen hat Mustafa liebevoll Frühstück angerichtet: Es gibt Kaffee und Brot, Bananensaft, Rührei mit Tomaten. Sieht gut aus. Leider hängt der Geruch noch immer in der Nase, im Gehirn. Das Frühstück bleibt unangetastet. Wir lassen das Geld liegen und nehmen grußlos reißaus.
„You can check out any time you like, but you can never leave”, summt Rollo leise, steigt ins Auto und brettert los als gäb’s kein Morgen.