Wenn ich an meine frühe Schulzeit denke, fallen mir oft die Erzählungen meiner Geschichtslehrerin ein. Von einem fernen Land mit prächtigen Obstgärten und Feldern, auf denen goldgelbes Korn im Abendwind rauscht. Von dunkelhäutigen Männern, die mit wuchtigen Hacken fruchtbares Land urbar machen und von Frauen, die pausbäckige Kinder in den Schlaf wiegen. Ich Fünftklässler saß ganz still und lauschte mit glänzenden Augen. So schön und paradiesisch, so unvorstellbar weit weg erschien dieses Land. Das Land zwischen Euphrat und Tigris.
Mehr als 30 Jahre später sitze ich in einem klimatisierten Überlandbus. Links und rechts fliegt die syrische Wüste vorbei. Steinig und karg. Wie ein Raumschiff mutet mein Gefährt in dieser Gegend an. Wehmütig denke ich an die bunten klapprigen Blechkäfige, die in Scharen durch Damaskus puffern und bin gleichzeitig froh. Weite Strecken bereist man hierzutage recht komfortabel. Es ist Mai 2010. Ich bin unterwegs. Zum Euphrat. Nach Dair az-Zur, der wohl heißesten Stadt Syriens.
Natürlich weiß ich, dass ich auf dem Holzweg bin. Meiner Kindheitserinnerung kann ich mich bestenfalls annähern, denn das Zweistromland ist anderswo. Nur mutige Menschen reisen heutzutage dorthin. Doch überhaupt, was ist das schon – DAS Paradies?
An diesem frühen Nachmittag beamt mein Raumschiff nur eine Handvoll Touristen auf einen überdimensionierten Busbahnhof vor den Toren von Dair az-Zur. Ein wild gestikulierender Polizist winkt uns Neuankömmlinge in ein merkwürdiges Bauwerk, eine Art Rondell mit offenem Innenhof und dem Charme einer gut geführten öffentlichen Badeanstalt. Tatsächlich ist es die Polizeistation. In den Innenhof drückt die Mittagshitze hinein. Die liebe Sonne strahlt so gleißend, dass es in den Augen sticht. Kein Lüftchen weht. Die Hitze flirrt. Mein Liebster summt mir das Lied vom Tod. Vom Innenhof können die Beamten, vielleicht auch wir, mehrere Räume erreichen. Diverse amtliche Büros, ein Klo, den Schlafbereich. Wir werden in ein Büro gebeten – wohl das des Polizeivorstehers. Die Klimaanlage bläst, als gebe es kein Morgen. Drinnen sitzt bereits ein Pärchen. Es kommt aus Mexiko und friert ganz ängstlich.
Passkontrolle! Ja doch. Klar. Die Pässe. Unbestreitbar eine wichtige Formsache hierzulande. Alle Namen müssen in ein dickes ledergebundenes Buch eingetragen werden. Auf Arabisch. Von der Wand lächelt Bashar al-Assad gütig herab. Auch er hat ein Buch vor sich. Ich bin beeindruckt.
First name, please. Der Mexikaner beginnt. Seine vielen Vornamen bringen den Vollstrecker sichtlich in Bedrängnis. Der Befragte wiederholt höflich und bewirkt noch größere Verwirrung. Ich könnte das auch nicht auf Arabisch. Nun noch die Vornamen von Mutti und Vati. Nur die Vornamen? Ja, nur die. Selbstverständlich. Das Ganze dauert eine Stunde. Dann dürfen wir, leicht unterkühlt, das Revier verlassen.
Die Stadt Dair az-Zur mit ihren 294.000 Einwohnern liegt zu beiden Seiten des Euphrats. Von Damaskus kommend hat man reichlich 400km hinter sich gebracht. Noch einmal so weit ist es bis Bagdad, nach weiteren 500km Richtung Süden erreicht man Kurnah, da, wo man das Zweistromland, den Garten Eden von einst vermutet, wo Euphrat und Tigris zusammenfließen und als Schatt-el-Arab in den Persischen Golf münden.
In römischer Zeit gab es im heutigen Dair az-Zur bereits einen Handelsstützpunkt. Die moderne Ansiedlung wurde 1860 von den Türken gegründet. Die Syrer nennen sie liebevoll „Perle des Euphrats“ oder auch „Verlobte der Wüste“. Sie ist eine betörend zähe Melange aus Hitze, Lärm und Dreck. Der Suq pulsiert zwischen 7 und 11 Uhr. Danach versinkt die Stadt in eine mehrstündige Ohnmacht. Auf den Straßen sieht es aus wie am autofreien Sonntag. Bashar der Große winkt nebst totem Papa von jeder erdenklichen Häuserwand. Unvollendete Bauvorhaben runden den Eindruck ab. Wer den Charme niedlich herausgeputzter Bürgerhäuser und scheckheft-gepflegter Flusspromenaden sucht, sollte nicht hierher kommen, sondern an die Mosel fahren. Abgesehen von den nahegelegenen Grabungsstätten in Mari und Duro Europos, bieten Stadt und Umgebung nicht viel Schnickschnack zum Zeitvertreib. Touristische Aktivität entfaltet man besser anderswo in Syrien. Da gibt es dann auch reichlich an klassisch Schönem zu bestaunen: Die Zitadelle von Aleppo, die Umayyaden-Moschee in Damaskus, das Ruinenfeld von Palmyra, den Krak des Chevaliers, die tote Stadt Sirdjilla oder die Wasserräder von Hama.
Endlich stehe ich an der französischen Brücke. Die heute nur noch für Fußgänger und Radfahrer zugelassene Hängekonstruktion wurde 1930 von den Franzosen errichtet. Seit 2008 erstrahlt sie in neuem Glanz und überspannt frisch renoviert das ewige Wasser. Hab ich dich also gefunden – du Urvater aller Flüsse, du Lebensader. Segnest das Umland mit fruchtbarem Boden, lässt Getreide und Baumwolle gedeihen. Breit, träge und dunkel wälzt du dich durch das schwere Grün der Ufervegetation. Etwas blutarm siehst du dieser Tage dennoch aus, denke ich und überlege gleichzeitig, ob man das so ausdrücken kann. Flussabwärts mag der Eindruck einer morbiden Metapher entstehen. Dabei geht es lediglich um Wasser. Gleich nebenan im „Restaurant zur großen Brücke“ (Al-Jisr al-kebir) bestätigt Hassan den Eindruck. Hassan ist Kellner und spricht ein wenig Englisch. Meine Frage, ob es zu wenig Regen gibt, verneint er zunächst vehement und wiegt dann zweideutig den Kopf. Vage erwähnt er den nördlichen Nachbarn und den ebenfalls nördlich gelegenen Assad-Staudamm. 1978 wurde er fertig gestellt und galt seinerzeit als das größte volkswirtschaftliche Projekt in der Geschichte Syriens.
Ein zünftiger Bootsausflug kommt so jedenfalls nicht in Frage. Nur die Einheimischen schippern mit kleinen modrigen Holzkähnen von einem Ufer zum anderen. Jugendliche Raubeine turnen respektlos am Gestänge des französischen Mandatserbes und stürzen sich halsbrecherisch in die Fluten. Wen der erste Eindruck von Dair az-Zur nicht abschreckt, der lässt sich treiben, reflektiert das eigene Dasein und verbringt seine Zeit am besten mit Flanieren und Philosophieren. Wer bin ich und womit verbringe ich meine Lebenszeit und vor allem, will ich das noch genauso in den nächsten zehn Jahren? Je länger ich den tausendjährigen Wellen nachschaue, desto absurder erscheint es und desto weniger verspüre ich den Drang nach Aktivität und nach diesem Alltag von anderswo. Hier an diesem Ort und in diesem Moment möchte ich verweilen.
Zum späten Nachmittag besuche ich eine Probe der lokalen Folkloregruppe. Iskander hat mich am Vormittag beim Obstkaufen kennengelernt. Er hat in den 80er Jahren in Potsdam studiert. Wir plaudern ungezwungen auf Deutsch und sind uns recht schnell sympathisch, so dass ich gern seiner Einladung ins hiesige Kulturhaus folge. Ja, Dair az-Zur hat wirklich ein Kulturhaus und ganz sicher ist es ein Relikt sowjetsozialistischer Ambitionen der 70er Jahre. Heutzutage ist der Eingangsbereich trist, Kabel hängen aus den Wänden, der Putz bröckelt. Ich stolpere eine Treppe hinauf und stehe plötzlich in einem kargen, neonbeleuchteten Raum. Etwa zehn Leute sitzen im Kreis. Mir wird der beste Platz angeboten, natürlich auch Tee. Anfangs herrscht ein wenig Scheu ob der Fremden. Noch klingt die Oud eher schüchtern. Doch dann hebt der blinde Mahmud würdevoll den Kopf und intoniert mit herzzerreißender Stimme arabische Weisen. Die Frauen können nun nicht mehr an sich halten und beweisen, dass auch sie singen können. Es folgt der junge Halid, Sohn von Hamed, dem musikalischen Leiter der Truppe. Gerade mal zehn Jahre alt, zittert seine Stimme noch etwas ängstlich. Aber es hilft nichts. Sein Vater und andere Musiker drängen ihn fröhlich und bestimmt zum Weitermachen. Immer wieder üben sie eine bestimmte Tonfolge. Der Rest summt leise mit. Zum Finale erhebt sich Hamed. Dabei wirkt er ein wenig wie der Vorsteher einer russischen Kolchose. Und bläst würdevoll die Nai. Zum Weinen schön.
Gegen 19 Uhr erwacht das Leben im Städtchen. Jung und Alt schaufenstern durch die Sh. Azar und ihre Nebenstraßen und kaufen, was die neonbeleuchteten Auslagen so hergeben. Das Prekariat findet man weiter hinten in der Sh. Khalid ibn Walid, in einem der verwahrlosten Teehäuser. Kaffee oder Tee gibt es, mit oder ohne Zucker. Latte Macchiato oder Cappuccino? Als wenn das jemand brauchen würde. Hier verbringen zahnlose Männer mit unglaublich zerfurchten Gesichtern ihre Stunden. Wahrscheinlich auch ihr Leben. Mich Europäerin heißen sie liebevoll willkommen. Sie kichern scheu und lassen sich dann doch nach einiger Zeit, nur noch leicht kokettierend, fotografieren. Ihre Kleidung ist zerschlissen und ich denke an meinen Zehn-Kilo-Rucksack im Hotel. Wie viele Kleidungsstücke nennen sie wohl ihr Eigen? Irgendwann einmal werde ich soweit sein und mit nur noch fünf Kilo reisen. Hier an diesem Ort kann man lernen, das Wort Bedürfnis neu zu definieren und Kategorien wie Vollkommenheit und Schönheit in einer völlig anderen Dimension zu begreifen. Wem das passiert, erlebt einen beinahe befreienden Moment. Gern würde ich mit den alten Männern reden, doch dazu reicht mein Arabisch nicht und sie sprechen keine Fremdsprache. Schweigend schlürfen wir unseren Tee. Er ist süß, heiß und stark, mit einem Hauch Minze. Gegen 21 Uhr glühen noch immer 38 Grad Celsius in den Straßen.
Braucht der Körper nun feste Nahrung, ist auch dafür gesorgt. Wer es lokal liebt, geht zum Essen in die Sh. Khalid ibn Walid, die Fressgass von Dair az-Zur. Die halben Hähnchen an einem der vielen Bratstände sind eine echte Delikatesse – auch wenn man sich die Bratöfen lieber nicht genauer anschauen sollte, zumindest nicht vor dem Essen. Nette Gäste bekommen einen Stuhl auf dem Bürgersteig angeboten und so sitzt man genüsslich mampfend mit fettiger Schnute, das Hühnerbein in der einen, die Cola-Dose in der anderen Hand, und schaut zufrieden dem abendlichen Treiben zu. In Blickrichtung vor uns wienert ein junger Taxifahrer seinen Arbeitsplatz. Als alles blitzeblank ist, holt er einen Aufkleber aus dem Handschuhfach und bringt ihn ordentlich an der Innenseite der Fahrertür an. Beinahe liebevoll streicht er mit der Hand darüber – über das Abbild von Bashar al-Assad.
Echte Individualfeinschmecker sollten sich in eine der einfachen Grillküchen trauen. Deren Betreiber sind schier aus dem Häuschen, wenn ich stehenbleibe, ein wenig schaue, reingehe und tatsächlich das esse, was auf den Tisch kommt. Heute Abend versuche ich Spieße mit ganz viel Salat, Hummus und Fladenbrot. Als ich den Gastraum betrete, sind bereits einheimische Gäste da. Ich werde freundlich begrüßt und, jawohl, zuerst bedient. Ausländerfreundlichkeit!
Überhaupt ist das Essen in Syrien eine Wucht und ein Muss für jeden Gesundheitsfanatiker. In der Regel stehen Huhn, Lamm oder Fisch auf der Karte, sofern es überhaupt eine gibt. Oder man probiert Mansaf, dieses köstliche Beduinengericht mit Reis, gegrilltem Fleisch, frittierten Mandeln und Kichererbsen. Wer Angst hat, nicht satt zu werden, sei beruhigt. Zu jedem Gericht gibt es Unmengen Salat. Wer immer noch Angst hat, ergötze sich an den Vorspeisen (Mezze) von Hummus über Petersiliensalat bis Auberginenpüree. Dann ist man aber wirklich platt.
Der Tag geht spät zur Neige. Ich verbringe die letzten Stunden, der Leser ahnt es, am großen Euphrat. Es ist 23 Uhr, die französische Brücke ist noch gut besucht. Zu dieser Zeit ein Treffpunkt der jugendlichen Flanierenden. Herausgeputzte Mädchen schwatzen und kichern mit ihren Freundinnen in Richtung ihrer männlichen Bewunderer. Diese stehen in Gruppen, palavern, lachen männlich und betrachten verstohlen das Weibsvolk. Im „Restaurant zur großen Brücke“ treffen Großfamilien mit Kindern ein. Die kleine Leila wuselt plärrend um Opas Füße. Der Bruder versucht vergeblich, seine Schwester zu bändigen. Auch Hassan hat wieder Dienst und schleppt voll beladene Tabletts mit riesigen bunten Salattellern und dampfenden Platten mit Gegrilltem. Ich bekomme ein eiskaltes Meisterbier serviert und bin entzückt. „Das wird in Ägypten hergestellt“, erklärt Hassan und ich versuche ihn zu einem Gespräch zu bewegen. Doch die Großfamilien verlangen nach Shishas, Hassan muss laufen und plötzlich ertönt ohrenbetäubendes Geschrei. Leila ist die Treppe hinunter gefallen. Die Großfamilien springen auf, zetern untereinander und mit der Gefallenen. Der Bruder steht ganz still abseits. Hassan schüttelt den Kopf und bringt einen kalten Lappen.
Dann zieht wieder Ruhe ein. Ein Hauch Kirschtabak weht durch den lauen Nachtwind und das kalte Bier schmeckt vorzüglich, als Hassan dann doch noch einmal vorbei schaut:
„Where are you from?“
„From Germany.“
„So what the hell are you doing here?“
Etwas hilflos sehe ich ihn an und denke an meine Geschichtslehrerin. Das aber versteht kein Mensch und so erzähle ich ihm etwas von Urlaub. Tja, ich bin nach Dair az-Zur gereist, um mir einen Kindheitstraum zu erfüllen. Weil es ein überwältigendes Gefühl ist, den Euphrat zu besuchen. Um über die französische Brücke zu flanieren und den großen Zeh mit heiligem Wasser zu benetzen. Um irgendwo unbemerkt „Ich war hier!“ in den Baum zu ritzen.
PS – die Vielfalt der Schreibweisen des Ortes scheint nahezu unbegrenzt. Hier einige Beispiele: Deir al-Zor, Deir ez-Zor, Deir al-Sor, Deir al-Zour, Deir ez-Zur, Deir Ezzor, Dair az-Zaur, Dair az-Zur, Dair alsur
Dies, verehrte Sarah, ist für mich eine Deiner schönsten Erzählungen zu einer solchen Reise. Danke dafür.
Sen